Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
Vom Netzwerk:
sich zu dem Alten um. »Du, wenn du mir noch mal eine Fahrt vermasselst, setz ich dich auf die Straße, ich schwör’s!«
    »Sch-scht!« machte der kleine Chinese aufgeregt.
    Der Fahrgast neigte sich wieder ins Innere des Wagens. »Ich habe tatsächlich etwas vergessen«, sagte er in ganz verändertem Tonfall. »Können Sie hier warten? Es soll Ihr Schaden nicht sein …« Er wartete keine Antwort ab und verschwand in dem Kaufhaus, vor dem Johnny zufällig gehalten hatte.
    »Was hast du jetzt wieder gemacht?« schrie Johnny nach hinten.
    Der Alte grinste fröhlich. »Ein Wunder, hick, warum?«
    »Hör auf zu trinken, du Wurzelzwerg, das bekommt dir …«
    »Ein Wunder für ein anderes!« rief der chinesische Weihnachtsmann und lächelte so treuherzig, daß Johnny lachen mußte.
    Später, als der Geschäftsmann zu Hause angekommen war und Johnny reichlich entlohnt hatte, fuhr er die nächste größere U-Bahn-Haltestelle an.
    »Möchtest du eine Tüte Maroni, Alterchen?« fragte er.
    »Darauf kannste wetten!« lachte der Greis und hielt ihm die beiden leeren Becher hin. »Aber die sind ziemlich trocken, oder?«
    Johnny lachte jetzt auch aus vollem Hals. »Und du willst mir einreden, daß du noch nie im Leben Glühwein getrunken hast? Bei deiner Statur müßtest du allmählich schon einer Alkoholvergiftung nahe sein!« Er holte eine Tüte Maroni, zwei Becher Glühwein und zwei große Lebkuchen, und es machte ihm nicht einmal etwas aus, daß der alte Chinese seine Sitzpolster mit Maronischalen und Lebkuchenresten verkrümelte. »Weißt du, allmählich glaube ich, daß du so etwas wie ein Glücksbringer bist«, sagte er nachdenklich und trank einen Schluck. »Ich meine, so ein chinesischer Glückskeks oder so.«
    »Ich bin kein Keks, du freches Entenküken, sondern der Weihnachtsmann.«
    »Dann eben ein Weihnachtsglücksbringer. Nein, wirklich. So etwas wie mit dir habe ich noch nie erlebt.«
    »Danke, gleichfalls. Ich wußte gar nicht, wie langweilig mein Leben bisher war.« Er grapschte nach Johnnys Becher, als der nächste Fahrgast einstieg, eine wohlbetuchte alte Dame.
    Johnny hatte längst aufgehört, sich über sich selbst zu wundern, als er, sonst stets so schweigsam, auch die Dame freundlich anredete. Sie antwortete höflich, aber einsilbig. Als eine längere Gesprächspause eintrat, begann der alte Chinese wieder ein Lied zu trällern, falsch und von Glucksern durchsetzt, aber es kam von Herzen.
    Die Dame ignorierte ihn völlig und dirigierte Johnny mit leiser, wohlmodulierter Stimme in ein anderes Stadtviertel.
    »Ich bin ein kleinel Splinginsfeld und ganz allein auf diesel Welt, weil niemand um mich ist«, deklamierte der Chinese hicksend.
    Die Dame drehte sich zu ihm um. »Woher wissen Sie …«, begann sie, starrte dann Johnny an, als würde sie jetzt erst nach einem langen Schlaf erwachen. »Drehen Sie um, schnell«, sagte sie. »Ich will woanders hin.«
    »Ist das auch wieder eins deiner Wunder?« fragte Johnny danach. Auch diesmal war er fürstlich bezahlt worden; noch während die alte Dame ausstieg, kam eine junge Frau aus einem der Häuser herausgelaufen und umarmte sie stürmisch und unter Tränen.
    »Jungchen, ich will dir doch nur zu deinem Weihnachtsessen verhelfen«, erwiderte der Chinese. »Jeder Mensch hat so einen Tag im Leben, und heute ist eben der deine gekommen.«
    »Du meinst, du ziehst den Leuten das Geld aus der Tasche?«
    »Was denn sonst? Es ist alles Kommerz, wie du sagtest, Geld regiert die Welt. Und damit du kein schlechtes Gewissen bekommst, erledige ich das. Wenn dabei noch ein bißchen was für die anderen abfällt, um so besser.«
    »Alterchen, allmählich machst du mir Angst.«
    »Kleiner, jeder lebt irgendwie auf Kosten der anderen. Ich hab’ bisher sehr gut auf deine Kosten gelebt. Wenn du jetzt noch meinen Schlitten findest, wird dir mein Dank ewig nachschleichen. Amen.« Er stopfte die leeren Becher in den Aschenbecher an der Tür, lehnte sich zurück und begann geräuschvoll zu schnarchen.
     
    Bis Mitternacht fand Johnny noch einige sehr spendable Fahrgäste; der alte Chinese hatte mittlerweile noch drei Glühweine und vier Tüten Maroni verspeist, er war inzwischen sehr betrunken und sehr fröhlich. Sein Schlaf war nur kurz gewesen und hatte ihn zu weiteren Gesängen inspiriert, mißtönend und laut von Johnny begleitet. Das fidele Taxi kurvte kreuz und quer durch die Stadt, von einem Ende zum anderen, und wenn Johnny zwischendrin nach seiner prallen Geldtasche griff,

Weitere Kostenlose Bücher