Fromme Wünsche
kranke alte
Mann keine Angst.
Auf dem Gang wartete Dr. Metzinger auf mich, ein
Mann Ende Vierzig mit Halbglatze. „Mr. Herschel wollte unter allen Umständen
mit Ihnen reden. Deshalb hielten wir es für das Beste, ihm diesen Wunsch zu
erfüllen.“ Er sprach betont leise, so als könnte Onkel Stefan ihn hören. „Ich
muß Sie aber bitten, ihm jede Aufregung zu ersparen. Er hat viel Blut verloren
und einen schweren Schock erlitten. Bitte, nehmen Sie darauf Rücksicht, damit
sich sein Zustand nicht verschlimmert.“
Ich wollte mir heute nicht noch jemanden zum Feind
machen, deshalb nickte ich nur und erklärte, ich hätte verstanden. Er führte
mich zu Onkel Stefans Einzelzimmer. Als ich merkte, daß Metzinger die Absicht
hatte, mit hineinzugehen, blieb ich stehen. „Ich glaube, Mr. Herschel hat mir
etwas Vertrauliches zu sagen. Wenn Sie ihn nicht unbeaufsichtigt lassen
wollen, dann beobachten Sie ihn doch bitte durch das Fenster.“ Er bestand
jedoch darauf, mich zu begleiten, und dagegen war nichts zu machen. Bei dem
Anblick, den Onkel Stefan bot, zog sich mir das Herz zusammen. Er hing am Tropf
und an verschiedenen Apparaturen und trug eine Sauerstoffmaske. Er schlief.
Der Tod schien ihm heute näher zu sein als gestern in seiner Wohnung.
Dr. Metzinger berührte ihn leicht an der Schulter.
Onkel Stefan schlug die treuherzigen braunen Augen auf, und als er mich
erkannte, lächelte er glücklich. „Meine liebe Miss Warshawski! Wie habe ich auf
Sie gewartet! Lotty hat erzählt, daß Sie mir das Leben gerettet haben. Kommen
Sie her, ich muß Ihnen einen Kuß geben. Lassen Sie sich von diesen gräßlichen
Schläuchen nicht stören.“ Ich kniete mich vors Bett und nahm ihn in den Arm.
Als Metzinger in scharfem Ton Einspruch erhob, stand ich wieder auf. Onkel
Stefan sah den Arzt an. „Oh, Herr Doktor, Sie sind wohl mein großer
Beschützer, was? Sie vertreiben die Bazillen, damit ich schnell gesund werde.
Aber jetzt möchte ich ein paar private Worte mit Miss Warshawski wechseln.
Würden Sie uns bitte allein lassen?“
Metzinger zog sich widerwillig zurück. „Sie haben
eine Viertelstunde Zeit. Und denken Sie daran, Miss Warshawski: Sie dürfen den
Patienten keinesfalls berühren.“
„In Ordnung.“ Nachdem er beleidigt abgerauscht war,
holte ich mir einen Stuhl ans Bett. „Onkel Stefan - äh, Mr. Herschel-, es tut
mir so leid, daß ich Sie da reingezogen habe. Lotty ist außer sich, und ich
kann sie sogar verstehen. Es war gedankenlos. Ich könnte mir selbst eine
runterhauen.“
Auf seinem Gesicht erschien das verschmitzte
Lächeln, das ihn Lotty so ähnlich machte. „Bitte, nennen Sie mich Onkel Stefan.
Es gefällt mir. Und malträtieren Sie Ihr schönes Gesicht nicht, meine liebe
neue Nichte Victoria. Ich sagte Ihnen schon, daß ich keine Angst vor dem
Sterben habe. Ihnen verdanke ich ein phantastisches Abenteuer. Also seien Sie
nicht unglücklich darüber. Aber Sie müssen auf sich aufpassen. Das wollte ich
Ihnen sagen. Der Mann, der mich niedergestochen hat, ist ein ganz gefährlicher
Bursche.“
„Was ist denn eigentlich passiert? Ich habe Ihre
Zeitungsanzeige erst gestern nachmittag entdeckt, bei mir war allerhand los in
der letzten Woche. Ist das Zertifikat fertig?“
Er lachte resigniert. „Ja. Und es ist mir sehr gut
gelungen. IBM-Aktien. Also, letzten Mittwoch war es fertig.“ Er machte eine
Pause und atmete mühsam. Seine papierdünnen Augenlider flatterten. „Dann
erzählte ich einem Bekannten davon. Es ist wahrscheinlich besser, wenn Sie
seinen Namen nicht kennen, meine liebe Nichte. Der gab die Information weiter,
und so fort. Und Mittwoch nachmittag kam dann der Anruf. Ein Interessent, ein
Käufer. Er wollte am nächsten Tag kommen. Also gab ich rasch die Anzeige auf.
Am Nachmittag tauchte dann dieser Mann auf. Ich wußte sofort, daß ich nicht den
Boß vor mir hatte. Er wirkte wie ein Untergebener. Sie würden vielleicht
sagen, wie ein Laufbursche.“
„Ein Laufbursche. Aha. Wie sah er denn aus?“
„Ein Schlägertyp.“ Onkel Stefan war sichtlich stolz
auf diesen Ausdruck. „Ungefähr vierzig. Massig, aber nicht fett. Sah aus wie
ein Kroate mit seinem wuchtigen Unterkiefer und den dichten Brauen. Etwa so
groß wie Sie, wenn auch nicht so attraktiv. Bringt einen knappen Zentner mehr
auf die Waage.“ Wieder rang er nach Atem. Er schloß kurz die Augen, und ich sah
verstohlen auf die Uhr. Fünf Minuten noch. Ich mahnte ihn nicht zur Eile, denn
das hätte ihn vielleicht aus dem
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