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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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vernichtet, er hatte
sie … sie geheilt, irgendwie, aber zu welchem Preis?
    Es hatte eine andere Verletzung gegeben, eine weitere schwere Wunde.
Sie konnte sich kaum daran erinnern, aber wenn sie ihren undeutlichen
Eindrücken nachging, wenn sie ihr Gehirn zwang, auf eine gewisse Weise zu
denken, waren da lediglich Lichtblitze, die sich in Bruchstücke von Bildern
zerlegten. Obwohl diese Bilder unfertig und nicht eindeutig waren. Am stärksten
waren Geräusche und Gerüche. Es fiel so schwer, sich daran zu erinnern, weil
sich die Laute in Frequenzbereichen abspielten, die ihre menschlichen Ohren nie
zuvor gehört hatten. Und diese Gerüche … Ihre menschliche Nase und der Teil
ihres menschlichen Gehirns, der Sinneseindrücke ihres Geruchssinns
verarbeitete, vermochten die Gerüche, an die sie sich erinnerte, nicht einmal
annähernd aufzubereiten.
    Als aber Chey alles zusammenfügte, die Erinnerungen miteinander
verschmolz, erhielt sie eine grobe Vorstellung der Ereignisse. Sie hatte sich
in eine Wölfin verwandelt. Und dann? Etwas Schlimmes. Etwas Gewalttätiges war
geschehen, und sie war schwer verletzt worden. Sie war überzeugt gewesen,
sterben zu müssen, so sehr davon überzeugt, wie sie nur Tieren eigen war. Der
Wölfin fehlte die Fähigkeit, Tatsachen abzustreiten oder das Offensichtliche zu
verschleiern. Die Wölfin hatte gewusst, dass sie verblutete, dass die Verletzungen
schwer waren und sie nicht überleben würde. Die Wölfin hatte sich auf die Seite
gerollt – nur dazu war sie imstande gewesen – und auf das Ende
gewartet. Darauf gewartet, dass der Mond unterging, denn dann verwandelte sie
sich wieder in eine Menschenfrau. Es war ein schwacher, schäbiger Trost
gewesen, dass die Frau, die sie hasste, bald sterben würde.
    Nur dass das nicht passiert war.
    Nur dass sie völlig geheilt war.
    An ihrem Körper fanden sich keine
Narben. Nicht einmal die alten Narben von groben Auseinandersetzungen auf
Spielplätzen als Kind, die Narben von harter Arbeit an den Händen. Die
vielen Abschürfungen, Schnitte und Schrammen,
die sie während ihres Herumirrens im Wald davongetragen hatte, waren
ausnahmslos verschwunden. Was sonst noch?
    Chey blickte nach unten auf ihre linke Brust. Dort gab es eine
Tätowierung, die sie sich mit sechzehn hatte machen lassen. Manchmal wäre sie
sie gern wieder losgeworden, zu anderen Zeiten hatte sie sie als Abzeichen
ihrer Entschlossenheit, ihrer Willenskraft betrachtet. Meistens war sie sich
des Tattoos nicht einmal bewusst gewesen. Bei
jedem Blick in den Spiegel war es zu sehen gewesen, jedes Mal wenn sie
sich morgens anzog und jedes Mal wenn sie sich auszog und zu Bett ging. Es war ein Teil ihrer Identität geworden, ein Teil
ihres Körpers.
    Es war weg. Völlig verschwunden, als wäre es ihr nie gestochen
worden.
    Chey dachte an Powell und sein glattes Gesicht. Allein seine Augen
verrieten sein wahres Alter. Würde sie wie er werden? Würde sie für alle
Ewigkeit jung aussehen, aber mit Augen, um die der schwelende Zorn Fältchen in
die Haut grub?
    Oder, fragte sich Chey, als sie ein neuer Schauder überlief, würde
sie am Ufer dieses winzigen Sees an Unterkühlung sterben? Sie war noch immer
nackt, und während sie dort saß, sich selbst untersuchte und in Erinnerungen wühlte, die besser begraben bleiben
sollten, verfärbte sich ihre makellose, unversehrte Haut blau. Ihr
Körper zitterte, bis sie das Gefühl hatte, einen Krampfanfall zu erleiden. Der
kalte Sand brannte ihr unter den Fußsohlen. Ihre Zähne schlugen so hart
aufeinander, dass sie zu zerbrechen drohten. Sie musste einen Unterschlupf
finden. Falls sich nichts Besseres bot, konnte
sie sich in den Sand eingraben, um die Körperwärme zu erhalten. Und was
dann? Dort kauern und darauf warten, dass die Mounties kamen und sie retteten?
    O
Gott. Sollten jene nicht vorhandenen Mounties tatsächlich eintreffen –
würde sie ihnen dann in ihrer menschlichen Gestalt begegnen oder als Wölfin?
Würde sie sie angreifen? Würden die Mounties sie auf der Stelle abknallen,
einfach aus Prinzip? O Gott.
    Nicht allzu weit entfernt ertönte die Hupe eines Trucks. Überrascht
sprang Chey auf. »Hey, hier drüben!«, schrie sie und bedauerte ihren Ausruf
sofort. Es war Dzo mit seinem Kleinlaster, und er hatte für sie gehupt. Sie war
sich nicht sicher, ob sie gefunden werden wollte. Vielleicht brachte er sie
zurück zu der Hütte und einem warmen Feuer. Oder er ließ zu, dass Powell ihr
mit einer rostigen Axt den Kopf

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