Frostbite
konnte ich nicht einfach auf jemanden
zugehen, der möglicherweise die Antwort kannte. Ich wandte mich an
Wissenschaftler, die mich studieren, die mit mir experimentieren wollten. Ich
wandte mich an Geschichtsgelehrte, die nicht glauben mochten, dass eine Kreatur
wie ein Werwolf noch immer existierte. Ich wandte mich an Priester, die meine
unsterbliche Seele für verflucht hielten, obwohl ihre Erklärungen nicht den
geringsten Sinn für mich ergaben.
Niemand konnte mir konkret helfen. Eine Weile wanderte ich durch
Europa, aber es war mir ernst gewesen mit dem Wunsch, nach Kanada
zurückzukehren. Schließlich sammelte ich genügend Mut für einen Versuch.
Es war nicht einfach, den Atlantik zu überqueren. Ich konnte es mir
nicht leisten, einen Silberkäfig zu kaufen. Also stahl ich eine Kiste, einen
großen Überseekoffer, in den ich hineinsteigen konnte. Aus Lucies Schloss hatte
ich eine Silberkette mitgenommen, die ich nie verkauft hatte, gleichgültig, wie
dringend ich Geld brauchte. Nur so konnte ich meinen Wolf davon abhalten, über jemanden
herzufallen. Die Kette war nicht sonderlich dick, aber das spielte keine Rolle.
Spürte ich die Verwandlung nahen, stieg ich in den Koffer. Dann wickelte ich
die Kette auf eine Weise darum, die ihn versperrt hielt, aber von einer
Menschenhand entfernt werden konnte. Mein Wolf versuchte natürlich zu
entkommen, aber das war unmöglich – ohne Hände konnte der Wolf die Kette
nicht abstreifen. Und in dem engen Raum gefangen, hatte er auch nicht genug
Freiraum, um den Koffer in Stücke zu treten. Trotzdem befürchtete ich jedes
Mal, wenn ich hineinstieg, der Wolf könne es nach draußen schaffen. Ich hätte
alle an Bord töten können, und da ich kein Seemann war, wäre ich allein auf dem
Atlantik umhergetrieben, hätte das Schiff nie in einen Hafen steuern können. Aber
viel schlimmer war die Möglichkeit, dass ich nur eine Person verletzte, ohne
sie zu töten, und so den Fluch weitergab.
Meine Befürchtungen traten nicht ein. Die anderen Passagiere und die
Mannschaft bemerkten, dass mit mir etwas nicht stimmte, aber damals hatten
Menschen nicht so viel Angst vor den Geheimnissen anderer, und niemand stellte
Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Zwei Wochen nach meinem Aufbruch
landete ich in Boston und machte mich nach Norden auf, überquerte die Grenze.
War endlich wieder in meiner Heimat.
Ich weiß, dass der südliche Teil des Landes mittlerweile ziemlich
weit entwickelt ist, aber damals gab es westlich des Ontario so gut wie nichts.
Das war irgendwann während der Depression, aber vor dem Zweiten Weltkrieg. Ich
fand eine Hütte in den Barren Lands und lebte dort für eine Weile. Ich war
einsam, doch es war erträglich – ich glaubte meinen Platz gefunden zu haben. Aber schließlich wuchsen die Städte in Ontario,
und neue Vorstädte entstanden. Wo es zuvor bloß einige Holzfällerlager und
gelegentlich Jäger gegeben hatte, wurden ganze Städte hochgezogen. Kamen die
Landentwickler, ging ich nach Westen. Das wurde zu einem Muster. Eine Zeit lang
lebte ich irgendwo, vielleicht sechs Monate, vielleicht auch ein ganzes Jahr,
aber sobald die Holzfäller einpackten und abzogen, musste auch ich weiter.
Manchmal sogar ohne Vorwarnung. Ich streifte
durch den Westen, bis der Westen zu British Columbia wurde und sich die
Städte an der Westküste, die sich bereits entwickelten, nach Osten ausbreiteten.
Ich wechselte die Richtung, zog nach Norden und streifte dort durch das Land,
bis ich hierherfand. Rannte immer weg, war stets müde und wollte mich immer nur
niederlassen, nicht länger weglaufen. Und hatte schreckliche Angst, was wohl
geschehen würde, wenn ich wieder aufbrechen musste. Irgendwann werde ich auch
diesen abgeschiedenen Ort verlassen, aber ich bis dahin dauert es wohl noch
eine Weile.«
Und er verstummte. Seine Geschichte war erzählt. Das plötzliche
Schweigen war so seltsam, dass sie sich aufsetzte und ihn ansah. »Du hast die
ganze Zeit allein verbracht? Die vielen Jahre in den Wäldern ohne jede
Gesellschaft?«
Er hob die Schultern. »Es gibt Dzo. Wir lernten uns in den
Siebzigern kennen. Er lebte über einer Bar in Medicine Hat. Tatsächlich war es
sogar irgendwie seltsam. Ich war auf ein schnelles Bier hineingegangen –
manchmal gestattete ich mir diesen kleinen Luxus, wenn ich wusste, dass der
Mondaufgang noch eine Weile auf sich warten ließ. Er saß auf einem Barhocker
und aß Erdnüsse aus einem Schüsselchen, aber ich wusste, dass etwas
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