Frostbite
merkwürdig
war, weil er eine zweite kleine Schale mit Wasser vor sich stehen hatte und
jede Nuss gründlich abwusch, bevor er sie in den Mund steckte. Aus langer
Erfahrung wusste ich, dass ich mich am besten umwandte und ging, wenn mir etwas
Seltsames begegnete, aber dieses Verhalten kam mir harmlos vor. Also tat ich
so, als sähe ich es nicht, und hob den Finger, um zu bestellen. Aber es war zu
spät. Er bemerkte mich und deutete auf mich. ›Hey, du bist ein Gestaltwandler,
stimmt’s?‹, sagte er. Ich sah mich um und rechnete damit, von den Gästen
ergriffen zu werden. Ich nahm an, dass sie mich einsperren oder Schlimmeres mit
mir anstellen würden, wenn sie erfuhren, wer ich war. Ich hob abwehrend die
Hände und haute ab. Meinen Wagen hatte ich hinter dem Haus geparkt. Ich hatte
noch drei Stunden, um vor der Verwandlung in meiner Hütte zu sein. Er kam mir
nach, stellte sich vor meinen Wagen und wollte mich nicht losfahren lassen. Er
hatte seine Maske aufgesetzt und eine Tasche über der Schulter, und er sagte,
er werde mich begleiten. Ich versuchte zu erklären, dass ich bloß auf der
Durchreise sei. Er nickte und meinte, er auch. Ich versuchte zu erklären, dass
es gefährlich sei, dass er vor mir Angst haben müsse, aber er lächelte über
meine Drohungen. Was ich auch sagte, er ließ kein Nein gelten. Schließlich gab
ich nach, und er kam mit. Seitdem arbeiten wir zusammen.«
»Dann hattest du wenigstens einen Begleiter. Du musst deine Familie
schrecklich vermisst haben«, sagte sie.
»Ach, Familien werden überbewertet«, erwiderte er abschätzig. Dort
lauerte eine Geschichte, die er nicht erzählen wollte.
Aber Chey hatte ihre eigenen Vorstellungen. »Meine war früher einmal
ziemlich in Ordnung«, sagte sie. Sie spürte, wie die Wölfin in ihr die Zähne
fletschte. Sie trieb sie zurück und ließ sich keine Gefühle anmerken. »Dann
verwandelte sich alles in Scheiße.« Ein Stück ihrer Menschlichkeit flammte in
ihrem Herzen auf, als sie das sagte. Doch was immer sie durchgemacht hatte,
schon allein Powells Lebensspanne bedeutete, dass er länger gelitten hatte als
sie. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass es dir auch schlecht ergangen ist.«
Er hob die Schultern. Sie sprachen nur noch wenig, bis sie die Hütte
erreicht hatten. Als sie von der Ladefläche sprangen, warf er einen Blick auf
die Uhr. »Der Mond ist heute noch bis viertel vor zehn unten. Ich weiß ja
nicht, wie’s dir geht, aber ich hätte nichts gegen ein Bad und ein Bett
einzuwenden.« Offensichtlich blitzten ihre Augen, denn er grinste. »Natürlich
eins nach dem anderen. Wir haben eine große galvanisierte Wanne, die ich für
gewöhnlich benutze. Füllt man sie mit Wasser vom Feuer, wird sie sogar relativ
warm. Ich habe keine große Auswahl an Seife, aber was mein ist, ist auch dein.«
Sie nickte dankbar. Wieder sauber zu sein, wäre eine Wohltat.
»Hör zu«, sagte er. »Ich weiß, dass du im Augenblick vermutlich
nicht darüber nachdenken willst. Aber dieses Leben muss nicht so schrecklich
sein, wie du es dir vorstellst. Es ist sehr lange her, dass ich einen Platz hatte, den ich viel länger als eine Saison als
meine Heimat bezeichnen konnte. Ich vermute, es wird noch fünf Jahre
dauern, bis wir hier wegmüssen. Wenn du bleibst …« Diesmal blitzten ihre
Augen deutlich auf, aber er ließ nicht locker. »Wenn du eine Weile bleibst,
könnten wir überlegen, wie wir es hier etwas schöner machen. Einen Brunnen graben, vielleicht sogar ein Windrad bauen, um
Elektrizität zu gewinnen. Sag nichts! Denk einfach darüber nach! Dein
Leben muss nicht ganz und gar erbärmlich sein.«
Ihr Gesicht erstarrte. Ganz und gar erbärmlich. Wann war ihr Leben
das letzte Mal anders gewesen? Sie bemühte sich um ein Lächeln, aber ihre Haut
schien sich bloß schmerzhaft über die Zähne zu spannen. Sie wandte sich ab und
ging auf die Hütte zu. Er wählte den Räucherschuppen.
Die Erwähnung von Elektrizität hatte sie an ihr Handy erinnert. Sie
sah sich um, um sich zu vergewissern, dass Dzo sie nicht beobachtete, dann zog
sie es aus der Tasche, um zu sehen, ob es noch aufgeladen war. Um ein Haar
hätte sie es fallen gelassen, als das Display mit einer Botschaft aufleuchtete.
Satellitenverbindung
hergestellt
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19 Nach
der Rückkehr zu der kleinen Hütte in den Wäldern verkündete Chey, nur einen
Wunsch auf der Welt zu haben, nämlich das erwähnte Bad.
»Ich glaube, das lässt sich bewerkstelligen«, erwiderte
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