Frostbite
schlief auf dem Sofa ein, und Chey roch Alkohol in ihrem Atem. Aber das
hörte bald wieder auf. Nach ein paar Tagen an ihrem Arbeitsplatz wanderte sie
nicht mehr verloren im Haus herum. Sie sah wieder eher wie ihr altes Selbst
aus.
Chey brauchte länger, um alles hinzubekommen.
Der Nachbarshund war ein kleiner Schnauzer mit langen
Schnurrbarthaaren. Er sah nicht im Mindesten wie ein Wolf aus, trotzdem zuckte
sie jedes Mal zusammen, wenn er bellte. Ihr Herz raste, und sie schlang die
Arme um den Körper und krümmte sich zu einer Kugel zusammen. Waren sie in der Stadt unterwegs, nahm sie ihre Mutter
zum Einkaufen mit, und wenn es da einen Hund gab, wechselte sie auf die andere
Straßenseite.
Sie schlief nicht viel. Jede Nacht nur ein paar Stunden. Ihre
Schulnoten wurden schlechter, weil sie im Mathematikunterricht eindöste. Sie
bemühte alle möglichen Tricks, um wach zu bleiben. Sie rammte sich Bleistifte
in den Oberschenkel, biss sich in die Zunge, aber nichts schien zu helfen.
Der Therapeut gab ihr
Beruhigungsmittel zum Schlafen und Prozac, damit sie nicht den ganzen
Tag schlief. Die Kombination verlieh ihr das Gefühl, in ihrem Kopf schwämmen
Aale, also täuschte sie nach einer Weile nur vor, die Pille zu schlucken, und
versteckte sie hinten in der Schreibtischschublade.
Eigentlich sollte der Therapeut die Person sein, mit der sie
sprechen konnte, aber sie hatte nichts zu sagen. Sie setzte sich in seine
Praxis und sagte kein Wort, in der Annahme, sie könne ihn überlisten. Einige
Sitzungen lang funktionierte das auch – er wartete, bis ihre Zeit um war,
dann schickte er sie nach Hause. Aber nach einer Weile stellte er ihr Fragen.
Seltsame Fragen, die sie wütend machten oder aufregten, ohne dass sie den Grund
dafür kannte.
Oft sprach er mit ihr über Hunde. Er erzählte ihr, dass er einen
Hund besitze, einen Dalmatiner. Er fragte sie, ob er ihn mitbringen solle,
damit sie ihn streichele. Sie lehnte höflich, aber entschieden ab. Ein
wissender Ausdruck trat in sein Gesicht, und er hob die Brauen, als erwarte er, dass sie noch etwas dazu sagte. Sie
schwieg. Er erwähnte den Dalmatiner nie wieder.
Während einer Sitzung stellte er plötzlich Fragen, die ihr eindeutig
missfielen. Aber dieses Mal akzeptierte er kein Schweigen als Antwort. Er
wollte wissen, woran sie sich in Bezug auf ihren Vater erinnere. Er wollte
wissen, wie ihr Vater ausgesehen habe, und sie glaubte, das sei einfach, aber
dann wusste sie es doch nicht mehr genau. Er fragte sie, ob sie jemals über die
Art und Weise nachdenke, wie ihr Vater gestorben sei, und sie musste zugeben,
dass sie das tat.
»Wenn du darüber nachdenkst, bist du dann jemals aufgeregt?«, fragte er. Ihr Herz pochte schneller,
als er das sagte. Sie starrte ihn so finster wie möglich an, aber er
lehnte sich bloß auf seinem Stuhl zurück und wartete auf ihre Antwort. »Das ist
wirklich wichtig, Chey«, sagte er. »Ich glaube, das könnte ein Durchbruch sein.
Ich will dir ein Bild zeigen. Ich will, dass du mir sagst, ob dich dieses Bild
erregt.« Er zog ein Stück Papier aus der Tasche, ein Blatt, das aus einer Zeitschrift herausgerissen war. Langsam entfaltete er es
und reichte es ihr. Es war das Bild eines Wolfs mit Schnee an der
Schnauze.
Sie erzählte ihrer Mutter, was geschehen war, und sie brauchte nicht
mehr zur Therapie gehen.
Danach versuchte sie ein ganz normales Kind zu sein. Versuchte sich
um jeden Preis anzupassen und nicht aufzufallen. Versuchte sich wie eine Tussi
zu benehmen und mit Jungen zu flirten und auf Partys eingeladen zu werden. Es
fühlte sich nie ganz richtig an, aber es führte zu einem unerwarteten Bonus.
Auf den Partys gab es immer Alkohol. Sie entdeckte, dass zwei, drei Bier dafür
sorgten, dass sie die Nacht durchschlief.
25 Als
Chey sechzehn Jahre alt war, reiste sie für den Sommer nach Colorado. Onkel
Bannerman holte sie in Uniform vom Flughafen in Denver ab. Soweit sie wusste,
trug er sie immer. Er bekleidete irgendeinen Rang bei der amerikanischen Army,
aber als er versuchte, ihr seine Arbeit genauer zu erklären, begriff sie es
nicht so richtig. Er brachte sie hinauf in die Berge, wo er bereits ein Lager
mit zwei kleinen Zelten und einer Feuerstelle vorbereitet hatte.
»Wir werden hier oben zwei Monate lang leben«, verkündete er. »Kein Telefon, kein Internet, keine Schulfreunde.« Er zog die Uniformjacke aus, nahm die
Krawatte ab und verstaute alles in einer Plastiktüte hinten im Auto. Chey war
verwirrt und leicht
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