Frostbite
Angreifer
handelte es sich um einen mutmaßlichen
Lykanthropen. So wie das Auto ein Fahrzeug neuesten Baujahrs und ihr Vater das
zu Tode gekommene Opfer war.
Lykanthropen passten in ein bestimmtes Angreiferprofil. Es gab
Protokolle, wie man mit Lykanthropen verfuhr. Es gab Statistiken, was
Lykanthropen betraf – nicht mehr als drei tödliche Angriffe in den letzten
zwanzig Jahren, eine mutmaßliche globale Population von nicht mehr als tausend
Individuen, von denen die meisten in Europa lebten. Es gab Ringordner mit
3-Ring-Mechanik mit den erforderlichen Vorschriften, wie bei einer
Lykanthropensichtung zu verfahren war.
Die Polizei führte eine gründliche Untersuchung durch. Man bildete
eine Suchmannschaft und durchkämmte die Gegend um den Ort des Zwischenfalls.
Man erzielte keine Resultate – der Lykanthrop wurde nie gefunden.
Die Polizisten hatten getan, was sie tun konnten. Chey machte ihnen
niemals Vorwürfe – warum sollten sie auch den Wolf finden? Wer wollte
jemals einem solchen Wesen gegenübertreten, wenn er es nicht musste? Der
leitende Beamte des Falls war freundlich genug, einen Therapeuten für Chey zu
empfehlen, also brachte ihre Mutter sie in ein kleines Büro in der Innenstadt
mit verstaubten Topfblumen auf einer Fensterbank, deren Jalousie stets
heruntergezogen war. Der Therapeut war ein sehr dürrer, sehr blasser Mann mit
blondem Haar, der vorschlug, sich dreimal in der Woche zusammenzusetzen.
Zumindest so lange, bis klar wurde, wie viel Hilfe sie brauchte. Ihre Mutter
nickte bloß und schrieb einen Scheck aus.
Es gab eine Beerdigung für ihren Vater. Die Polizei hatte endlich
seine Leiche gefunden, hielt sie aber zurück, solange die Untersuchung nicht
abgeschlossen war. Ihre Mutter hatte nicht protestiert. Sie kaufte dennoch
einen Sarg und sorgte für eine Bestattung. Sämtliche Verwandte kamen und
berührten das Holz des leeren Sargs, und einige weinten. Chey stand neben ihrer
Mutter an der Kapellentür und trug ein schwarzes Kleid, das am Hals zugeknöpft
war. Sie schüttelte sämtliche Hände und dankte den Trauergästen für ihr Kommen.
Daheim gab es einen Leichenschmaus, und alle kamen, aber dort wurden
sehr viel weniger Tränen vergossen. Menschen in Anzügen und Kleidern füllten
die kleinen Zimmer und drückten sich an die Wände, während sie mit Essen
überhäufte Pappteller oder Plastikbecher voller Limonade balancierten. Man
sprach flüsternd oder zumindest in leisem Ton, aber zusammengenommen war es
laut genug, dass Chey die Ohren schmerzten. Am liebsten wäre sie in ihr Zimmer
gerannt und hätte sich im Bett verkrochen, aber das war mit Mänteln und Taschen
überhäuft, also war das nicht möglich.
Sämtliche ihrer Tanten und
erwachsenen Vetter zwangen sie, das gleiche Ritual noch einmal
durchzuführen, das schon beim ersten Mal so langweilig gewesen war. Man
tätschelte ihr den Kopf oder drückte sie an sich und versicherte ihr, wie
tapfer sie doch sei und dass der Schmerz im Lauf der Zeit verschwinden werde.
Chey pflegte mürrisch zu nicken und sah aus, als müsse sie gleich in Tränen
ausbrechen, und man ließ sie los. Nach ein paar Stunden nahm sie die Worte
nicht einmal mehr wahr, aber das spielte keine Rolle. Sie konnte die richtigen
Erwiderungen geben, ohne zuhören zu müssen. Dann klingelte es an der Tür, und
sie rannte los, um sie zu öffnen, weil sie so den traurigen Leuten entkam, die
mit ihr sprechen wollten. »So ein braves
Mädchen«, sagte jemand hinter ihr. »Sich in einem solchen Augenblick so
gut zu benehmen. Ich an ihrer Stelle wäre völlig außer mir.«
Chey öffnete die Tür und blickte
ins Tageslicht hinaus. Dort stand ein hochgewachsener Mann in Militäruniform,
der eine Schirmmütze in der Hand hielt. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt und
hatte einen eisengrauen Haarschopf. Chey hatte noch nie zuvor einen Mann
mit so kurzem Haar gesehen. Es überraschte sie, aber sie versuchte es sich
nicht anmerken zu lassen.
»Cheyenne«, sagte er und beugte sich vor, um die Hand auszustrecken.
»Ich bezweifle, dass du dich noch an mich erinnerst, aber ich bin dein Onkel
Bannerman. Der Bruder deines Vaters aus Amerika.«
Sie nickte höflich und schüttelte ihm die Hand. Er lächelte sie an,
ein kaltes, schmales Lächeln, hinter dem sich überhaupt nichts verbarg. Sie bat
ihn herein, und er verschwand, machte die Runde und begrüßte jeden. Einige von
Cheys Tanten versuchten ihn zu umarmen, aber er wehrte sie mühelos mit einem
cleveren kleinen Trick
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