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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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gelegentlich nicht schlafen konnte – also
so ziemlich jede Nacht nach dem Vorfall –, saß sie in der Dunkelheit und
rief sich ihre Flucht in Erinnerung. Sie ging sie im Kopf noch einmal durch,
jeden Augenblick, jede kleine Einzelheit. Ihre Hände griffen unwillkürlich nach
den Hebeln, ihre Füße gruben sich in das Laken und suchten verzweifelt nach den
Pedalen. Und sie erinnerte sich an den letzten Blick in den Rückspiegel und …
    … jedes Mal schwor sie sich, dass die Erinnerung nicht stimmte, dass
es ein Schuldkomplex war, dass die Vorstellungskraft mit ihr durchging …
    … eine Sekunde lang, den Bruchteil einer Sekunde, sah sie ihren
Vater blutüberströmt mitten auf der Straße liegen, und bevor sie sich abwandte,
bevor sie vor Tränen nichts mehr erkennen konnte, beobachtete sie, wie er sich aufsetzte und die verbliebene Hand
nach ihr ausstreckte. Nach ihr griff und sie anflehte, zurückzukommen
und ihn zu holen.

23   Chey
fuhr, bis sie auf Menschen stieß. Gute, anständige Menschen, die sie aufnahmen
und sich ihre Geschichte anhörten, die sie ihnen so wahrheitsgemäß wie möglich
erzählte. Menschen, die sich zu verstehen bemühten, was ihr zugestoßen war, und
ihr auf jede erdenkliche Weise halfen. Aber sie konnten nicht alles wieder in
Ordnung bringen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Im Lauf der Zeit wurde ihr
klar, dass es solche Menschen nicht gab, dass es sie nicht geben konnte.
    Nachdem die Polizei sie vernommen hatte, ließ man sie mit ihrer
Mutter telefonieren, die ihr sagte, dass sie sich keine Sorgen mehr machen
solle. Dass alles wieder in Ordnung komme. Am Telefon klang ihre Mutter, als
sei sie weit, weit weg.
    Chey flog in der ersten Klasse
nach Hause. Sie verschlief den ganzen Flug, und man hatte die
Stewardessen vorher angewiesen, sie nicht zu wecken, bevor es nötig war, und
dann kam jemand und brachte sie durch die Sicherheitskontrollen zu ihrer
Mutter, die einfach dort stand und sie eine Weile musterte. Vielleicht suchte
sie nach Verletzungen. Vielleicht wartete sie auch darauf, dass ihr Ehemann aus
dem Flugzeug stieg, auch wenn jedermann wusste, dass das nicht geschehen würde.
Es gab nicht einmal einen Sarg, weil die Leiche noch immer nicht gefunden
worden war. Schließlich umarmte ihre Mutter
sie und tätschelte ihr den Rücken, aber sie sagte kein Wort. Sie führte
Chey einfach nur zum Wagen, und sie fuhren in unbehaglichem Schweigen nach
Hause.
    Chey fuhr nach Hause, nur dass es ihr Zuhause dort nicht mehr gab. Nicht
so, wie sie es in Erinnerung hatte.
    Eine Weile stand sie in der Zeitung, war sogar ein paarmal im Fernsehen. Aber ihre Mutter erlaubte
nicht, dass sie Interviews gab, also erlosch das Interesse der Medien
rasch wieder. Die Polizei hingegen ließ sich nicht abwimmeln, und noch
wochenlang standen sie abends vor der Tür, nachdem Chey mit dem Abendessen
fertig war und die Teller abgeräumt hatte. Dann musste sie sich mit einem der
uniformierten Beamten hinsetzen und Fragen
beantworten. Manchmal brachten sie Bilder mit, Fotografien verschiedener
Wolfsarten. Keins dieser Tiere hatte Ähnlichkeit mit dem Wolf, der den Wagen
angegriffen hatte, und Chey fragte sich, was es wohl zu bedeuten gehabt hätte,
wäre eins davon das richtige gewesen. Wäre das wie bei einer Gegenüberstellung
bei der Polizei gewesen? Erwartete man von ihr, den Wolf unter den üblichen
Verdächtigen herauszupicken? Einmal brachten die Polizisten Tatortfotos mit,
die Stelle auf der Straße, wo es geschehen war. Sie nickte bloß und bestätigte,
dass es dort genauso ausgesehen hatte. Das Bild zeigte weder den Wagen noch die
Leiche ihres Vaters.
    Ihre Mutter konnte es nicht ertragen, dass sie sich die Bilder
ansehen musste. Chey behauptete, das gehe schon in Ordnung und störe sie nicht,
aber das stimmte nicht ganz. Sie sagte es nur, damit sich ihre Mutter besser
fühlte. Nachdem sie die Bilder betrachtet hatte, konnte sie nicht schlafen.
Nächtelang nicht.
    Chey versuchte selbst Fragen zu
stellen, aber die Polizisten beantworteten sie nicht gern, nicht einmal dann,
wenn sie die Antwort kannten. Man sagte ihr, ihr Vater habe keine großen
Schmerzen gelitten, er habe sich in einem Schockzustand befunden, als er starb,
und vermutlich nicht einmal mitbekommen, was da geschah. Man bestätigte auch,
was sie sich bereits gedacht hatte, dass sie von keinem gewöhnlichen Wolf
angegriffen worden waren. Dass es ein Lykanthrop gewesen sei. Das war das Wort,
das man benutzte. Bei dem

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