Frostbite
sonderlich viel erleben,
es sei denn, man ist Farmer. Manchmal fuhr sie in der Stadt herum und sah sich
die Lichter an, während leise das Radio lief. Manchmal fuhr sie zum Stadtrand
oder weiter. Eines Nachts schrak sie am Steuer aus dem Schlaf hoch, als die
Sonne aufging, und sie fuhr an den Straßenrand. Sie hatte keine Ahnung, wie
weit sie von zu Hause entfernt war. Vor ihr erhob sich ein Schild, demzufolge
sie sich auf dem Highway 16 befand. Darunter hing ein weiteres Schild, das
die hellgelbe Silhouette eines Männerkopfs zeigte. Es hätte nicht einprägsamer
sein können.
Sie befand sich auf dem Yellowhead Highway. Die Straße, die von
British Columbia bis nach Manitoba führte. Das Stück zwischen Edmonton und dem
Jasper National Park kannte sie am besten. Die Gegend, in der ihr Vater
gestorben war.
Sie stieß einen kaum hörbaren Fluch aus und zog eine Straßenkarte
aus dem Seitenfach der Fahrertür. Sie studierte die Landschaft und suchte nach
Hinweisen, wo sie war, konnte es aber nicht herausfinden. Anscheinend lag eine
kleine Stadt vor ihr, also fuhr sie langsam auf die schlummernden Häuser und
Gemischtwarenläden zu, an denen nur noch die Neonreklamen für Cola für Licht sorgten. Als sie den Namen der örtlichen
Bar las – Chesterton Arms –, trat sie auf
die Bremse, schloss die Augen und wartete, bis sie wieder klar denken konnte.
Chesterton. Die Stadt, in die sie mit zwölf Jahren gefahren war, die Stadt, in
der sie der Polizei berichtet hatte, was passiert war. Das war der sichere Ort
gewesen, an den sie sich geflüchtet hatte, als sie vor dem Wolf davongelaufen
war.
Chey überlegte, auszusteigen und die Straße hinunter zur Bäckerei zu
gehen. Das war damals die erste Anlaufstelle gewesen, die sie nach ihrer
Ankunft aufgesucht hatte. In Bäckereien wurde rund um die Uhr gearbeitet, da man
das Brot für den nächsten Tag buk, also hatte dort Licht gebrannt, und Menschen
waren bei der Arbeit gewesen. Sie war einfach hineingegangen und hatte darum
bitten wollen, das Telefon benutzen zu dürfen. Aber sie hatte kein Wort
hervorgebracht, und man war in der Bäckerei aufmerksam genug gewesen, sie auf
einen Stuhl zu setzen und ihr einen frischen Donut in die Hand zu drücken,
während man die Polizei rief. In dem Laden waren nette Menschen gewesen.
Jetzt, Jahre später, konnte sie
eintreten und sich erkundigen, wer gerade dort arbeitete. Möglicherweise
erinnerte man sich an sie – oder vielleicht auch nicht. Vielleicht
arbeiteten inzwischen ganz andere Leute dort. Mit einem Schaudern erkannte sie,
dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was sie eigentlich sagen sollte,
falls sie dieselben Bäcker oder Nachtmanager vorfand. Außerdem konnte sie sich
nicht mehr an die Namen erinnern.
Sie wendete und fuhr mit laut
gestellter Musik zurück nach Edmonton. Sie wollte nicht darüber
nachdenken, wie sie überhaupt hergefunden hatte, einhundertfünfzig Kilometer
von ihrem Wohnort entfernt. Sie wollte nicht glauben, dass ihr Unterbewusstsein
sie auf diese Weise beherrschte. Sie fuhr nach Hause, zog die schweren Vorhänge
zu und schluckte drei Schlaftabletten, die sie mit einer Dose abgestandenem
Ginger Ale hinunterspülte.
27 Am
25. Juli 2003 veränderte sich das Leben erneut. Chey war einundzwanzig Jahre
alt. Obwohl sie nie Erinnerungstage begangen hatte, ja, nicht einmal daran
dachte, war sie sich trotzdem der Tatsache bewusst, dass sich der Todestag
ihres Vaters zum neunten Mal jährte.
Ein Grund, weshalb man jeden Abend in dieselbe Bar geht, besteht
darin, dass jeder Abend genau gleich abläuft. Dieser Abend fing wie jeder
andere an. Chey zapfte Labatt Blues für die Arbeiter und Alley-Cat-Gebräu für
die anspruchsvolleren Gäste. Sie lachte und hatte eigentlich ihren Spaß,
scherzte mit den Stammgästen und aß ein Stück Bratfisch, das einer von ihnen ihr aus dem Imbiss nebenan mitgebracht hatte. Sie
hatte gerade an einem Tisch die Bestellung für verschiedene Getränke aufgenommen, als Bobby Fenech die Tür aufstieß
und der Qualm unter den Lampen in Bewegung geriet. Zufällig hob sie genau in
diesem Augenblick den Kopf und sah ihn. Der kreiselnde Rauch schien sich wie
ein Umhang um ihn zu legen.
Er wirkte wie ein Mann, der auf diesen Eindruck aus war. Ein Mann,
der gern dramatische Auftritte hinlegte, ob er sie nun bewusst inszenierte oder
nicht.
Eigentlich war er nicht einmal besonders hochgewachsen, aber
irgendwie plusterte er sich auf, so wie sich das Fell einer Katze
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