Frostbite
»Wir haben hier eine Strategie für Leute, die
über Themen reden wollen, von denen sie nichts verstehen. Ich bekomme eine
bezahlte Zigarettenpause, sie bekommen ein Bier auf Kosten des Hauses. Da gibt
es nur einen Haken. Sie trinken aus und verschwinden, bevor ich wieder da bin.«
»In Ordnung«, erwiderte er. »Wenn du es so willst. Aber hör zu. Ich
habe dir etwas mitgebracht. Und ich glaube,
du hättest es gern.« Er griff in die Tasche. Arkady packte sein
Handgelenk und zog es zurück, verdrehte es ihm auf den Rücken. Ein Stück Papier
oder vielleicht auch eine Karteikarte flatterte auf die Theke, und Chey griff
danach.
Sie drehte sie um und erkannte, dass es sich um ein Foto handelte.
Es sah aus, als sei es aus einem Flugzeugfenster geschossen worden. Es zeigte
wogendes Gras aus der Höhe. In der Bildmitte stieg ein Wolf auf die Hinterbeine
und schlug mit den gewaltigen Pfoten nach der Kamera. Seine Augen funkelten in
einem eiskalten Grün, bei dem sich jeder Muskel in ihrem Körper anspannte.
»Moment«, sagte sie und blickte auf.
Arkady hatte den seltsamen Kerl im Schwitzkasten. Er konnte sich
nicht von der Stelle bewegen, aber er wehrte
sich auch nicht, was seltsam war. Andererseits hat er ja bloß ein Bier
getrunken. Vielleicht war er schlau genug und wusste, was ein Rausschmeißer mit
etwas Druck anrichten konnte. »Moment«, wiederholte sie. »Das Bild sieht neu
aus.«
»Das hat ein Buschpilot vor zwei Wochen geschossen, bei einem Flug
in der Nähe des Polarkreises. Ein Typ, der ständig echte Wölfe zu sehen
bekommt. Er erkannte den Unterschied, darum schoss er das Foto und brachte es
mir, denn es ist mein Job, mir solche Bilder anzusehen. Ich brauchte eine ganze
Weile, um diese Sache mit deinen Daddy in Verbindung zu bringen. Und dann mit
dir.«
Chey schob das Foto von einer Hand in die andere. Versuchte eine
Entscheidung zu treffen.
Der komische Kauz hob die Brauen und versuchte offen und ehrlich
auszusehen. Chey vertraute diesem Gesicht nicht, nicht im Mindesten. Aber sie
vertraute dem Bild. Diese Augen. Sie konnte sich nicht an das Gesicht ihres
Vaters erinnern, aber sie erinnerte sich an diese Augen.
Chey nickte Arkady zu, und der Rausschmeißer ließ los.
»Ich heiße Robert Fenech«, sagte der Kerl und setzte sich auf seinen
Barhocker zurück. Das Grinsen war wieder da. »Ich arbeite im Auftrag der
Regierung als Geheimagent. Und jetzt hätte ich gern mein kostenloses Bier.«
28 Drei
Tage später erwachte sie in Ottawa und rollte sich aus einem Motelbett. Bobby
schlief noch, bis zu den Hüften mit einem Laken zugedeckt. Ein Arm hing über
der Bettkante, die Knöchel waren im Teppich vergraben.
Chey duschte so leise wie möglich und zog sich an. Bobby rührte sich
nicht. Sie trat zum Vorhang und schob ihn ein Stückchen zur Seite. Auf der
Straßen gegenüber befanden sich ein Gemischtwarenladen, eine Drogerie und der Parkplatz der hiesigen Filiale von
Canadian Tire. Alles wies die gleichen gedämpften Grautöne auf, die
miteinander verschmolzen. Auf den Bürgersteigen wimmelte es von zweisprachigen
Schildern. Kein Zweifel, sie war zurück in Ontario.
Es war Jahre her. Ihre Mutter lebte noch immer in Kitchener. Ein
paar Hundert Kilometer weit weg, aber zumindest in derselben Provinz. Sie hatte
mit ihr seit sechs Monaten kein Wort mehr gewechselt und fragte sich, ob sie
anrufen sollte – aber dazu war es noch zu früh.
Chey und Bobby waren in der
vergangenen Nacht eingeflogen und hatten das kleine Zimmer genommen, weil sie
zu müde waren, nach etwas Besserem zu suchen. Dann hatte Bobby herummachen
wollen, und sie war zu erschöpft gewesen, um ihm Widerstand zu leisten.
Nein, das stimmte nicht ganz. So gern sie auch so getan hätte, als
fühle sie sich nicht von Bobby angezogen, konnte sie sich dennoch nicht davon
überzeugen. Klar, er sah leicht verrückt aus und war etwas nervig in seiner
Art. Aber er kapierte sie. Als sie ihm davon erzählt hatte, wie sie schlafend
nach Chesterton gefahren war, hatte er bloß genickt und ihre Hand gehalten. Als
sie ihm von ihrer Beschämung erzählt hatte, als Onkel Bannerman ihre
Tätowierung entdeckt hatte, hatte er ihr seine Tätowierung gezeigt, ein
schlampig ausgeführtes schwarzes Molson-Logo auf seinem Bizeps, das ein Freund
auf der Highschool mit einer heiß gemachten Nähnadel gestochen hatte. Und als
sie ihm erzählt hatte, dass sie sich noch immer vor Hunden fürchtete, hatte er
nicht gelacht.
Dann war da noch die Tatsache, dass er
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