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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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jene seltsame schrille Leere in ihrem Leib
und ihren Gliedern.
    Sie versuchte nicht darüber nachzudenken. Also half sie Lester, vor der Hütte Feuer zu machen. Wobei
sie immer wieder zum Waldrand hinüberspähte. Sie konzentrierte sich auf das
Holz vor ihr, auf die kleine Pyramide größerer Zweige, aber dann
räusperte Lester sich, und sie wurde sich bewusst, dass sie schon wieder die
dunkle erste Reihe der Bäume im Blick hatte. Nach Powell Ausschau hielt.
    Er wollte sie töten. Er hatte schon vorher Menschen getötet. Sie
hatte allen Grund, sich vor ihm zu fürchten. Oder etwa nicht?
    Haut – Menschenhaut – hing in seiner Schwitzhütte. Was
hatte er nur vorgehabt? Chey wollte es sich gar nicht ausmalen. Sie war nach
Norden gekommen, um ihn zu töten. Sie hatte ihn stellen wollen, weil sie genau
zu wissen glaubte, welch ein Ungeheuer er war. Dann hatte ihr allmählich
gedämmert, dass die Zusammenhänge komplizierter
waren. Dass da etwas an ihm war … etwas Menschliches. Die ledernen
Streifen erzählten aber eine ganz andere Geschichte.
    Sie beobachtete die Bäume. Wartete. Es war nur eine Frage der Zeit,
bis er zurückkehrte. Um der Sache mit ihr ein Ende zu bereiten. Vielleicht um
ihr ein Ende zu bereiten.
    Er hatte ihr kleine Freundlichkeiten erwiesen – sie in seinem
Haus aufgenommen, ihr die Grundregeln der Lykanthropie beigebracht. Waren das
die Gesten eines Menschen gewesen, der die Hand nach der einzigen Person auf
der Welt ausgestreckt hatte, die ihn möglicherweise verstand? Oder war es eine
Initiation gewesen? Hatte er sie bloß in seine Welt aus Blut und Schrecken
eingeführt? Hatte sie langsam mit seiner Welt vertraut gemacht, damit sie nicht
abgeschreckt wurde? Welche finsteren Geheimnisse hatte er ihr vorenthalten? Und
dann hatte sie ihn verraten – eine Kreatur, die zu solcher Gewalt fähig
war.
    Vielleicht war es ein sehr schlimmer Fehler gewesen, dass sie ihn
nicht erschossen hatte. Vielleicht holte sie das Schicksal ein. Suchte den
Ausgleich für den Tag vor zwölf Jahren, als sie hätte sterben sollen.
    Draußen im Wald bewegte sich etwas. Gelegentlich fielen
Kiefernnadeln an den Zweigen vorbei nach unten und wurden von den Schatten
zwischen den Baumstämmen verschlungen. Ein Vogel warf sich mit dem lautstarken
Flattern kräftiger Flügelschläge in die Luft, erwischte die Brise und segelte
lautlos weiter. Einer der Bäume ächzte. Diese Bäume erfroren im Winter und
tauten nur langsam auf, einen Wachstumsring nach dem anderen, und wenn das Eis
in ihnen zerbarst, hörte es sich an, als wollten sie gleich umstürzen. Bei
diesen Lauten fuhr Chey zusammen, und ihr Herz schlug schneller. Ein
Eichhörnchen flitzte eine hohe Birke hinauf, umkreiste den Stamm. Um ein Haar
hätte ihr diese Bewegung einen Aufschrei entlockt.
    Lester setzte einen Topf mit Wasser aufs Feuer und bereitete
Instanthaferbrei zu. Chey aß und fühlte sich ein
wenig besser – und dann kam Bobby und ging neben ihr in die Hocke.
Er musterte ihr Gesicht, wie um im Voraus festzustellen, wie sie auf seine
nächsten Worte reagieren würde.
    Das gefiel ihr überhaupt nicht.
    »Wir müssen mit kühlem Kopf an diese Sache herangehen. Zumindest
brauchen wir einen mittelfristigen Plan. Heute geht der Mond um acht Uhr
sechsundfünfzig auf.« Er hielt ihr ein gelbes Blatt Papier in Blockgröße hin,
das zwei Zahlenreihen zeigte. Er tippte darauf, und sie las die Zahl 2056.
    »Schon?«, fragte sie mit möglichst beherrschter Stimme. »Ich habe
das Gefühl, als sei ich gerade eben erst … aufgewacht.«
    »Du meinst – in deine menschliche Gestalt zurückverwandelt«,
verbesserte er sie. Er hatte diese bestimmte Art und Weise, Aussagen zu
treffen. Er machte aus allem Tatsachen. Fakten. Fakten, denen sie sich stellen
musste. »Heute ging der Mond um vierzehn Minuten nach zwölf unter.« Er tippte
wieder auf das Blatt. Die andere Reihe zeigte 1214.
    »Das reicht nicht«, sagte Chey. »Ich meine, das scheint nicht
richtig zu sein. Wie viel menschliche Zeit hatte ich heute?«
    »Ungefähr achteinhalb Stunden. Es ist jetzt nach sieben. Ich brauche
dich, du musst mir helfen, alles für heute Nacht vorzubereiten.«
    Chey fröstelte. Sie erinnerte sich, dass Powell ihr erzählt hatte,
die Mondphasen so weit im Norden seien seltsam. Er hatte gesagt, ihre
menschliche Zeit werde im Verlauf des Monats weniger, aber sie hatte nicht
damit gerechnet, dass der Übergang so deutlich war. »Wie viel Zeit habe ich
morgen?« Sie meinte

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