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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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Menschenzeit, aber im Gegensatz zu Bobby konnte sie diese
Worte nicht laut aussprechen und ernst nehmen.
    »Sechs Stunden«, antwortete er.
»Wir müssen bereit sein.«
    Sie nickte. Sechs Stunden. Ihre
Wölfin hätte drei Viertel des Tages für sich. Plötzlich verspürte sie
heftige Eifersucht. Es war ihr Leben, das das Tier da verschlang. »Und
übermorgen?«
    »Vier. Bitte komm mit!«
    Sie ließ zu, dass er sie am Arm nahm und auf die Füße zog.
    Vier Stunden von vierundzwanzig. Powell hatte von Tagen gesprochen,
an denen der Mond überhaupt nicht unterging. An denen er nie unterhalb des
Horizonts verschwand. Er sank und stieg auf und sank wieder, verschwand aber
niemals ganz.
    Plötzlich fühlte sich Chey schwach. Dem Tod nahe. Bobby führte sie
über den Holzfällerweg durch den Wald. Manchmal musste er sie stützen, stemmte
seine Schulter unter ihre Achsel.
    »Ich muss meinen Onkel anrufen«, sagte sie. Sie konnte nicht klar
denken. »Ich muss meinen Onkel erreichen, damit er kommt und mir hilft. Er
bringt alles wieder in Ordnung.« Selbst in den eigenen Ohren klang ihre Stimme
schrill und bedeutungslos. Wie das Summen einer Schwarzfliege. Sie hasste sie,
hasste ihre Schwäche. Zuvor war sie stark gewesen – stark wie ein Wolf.
Was war geschehen?
    Sie gingen einen Kilometer auf diese Weise, vielleicht auch zwei.
Vor sich erkannte Chey die kleine Abzweigung zum Feuerturm. Sie hatte gar nicht
gewusst, wie dicht er bei Powells Hütte stand.
    »Ich soll wieder dort oben hinauf?« Mühsam versuchte sie, sie selbst
zu sein, mehr Mumm in den Knochen zu haben. »Bobby?«
    Er sah sie nicht an, sondern spähte
nach oben und betrachtete die Silhouette des Feuerturms. Die Sonne folgte ihrem
Weg und zeichnete bereits lange Schatten auf die Straße. »Ich weiß, dass dir
das nicht gefällt, Chey«, sagte er. Er klang ehrlich, und dafür liebte sie ihn
ein bisschen. Für die Tatsache, dass er sich trotz des Schreckens und der
Gewalt, die sie umschwirrten, noch immer Gedanken um ihre Gefühle machte,
zumindest ansatzweise. Sie erinnerte sich daran, wie viel sie ihm schuldete.
Ohne ihn wäre sie nie so weit gekommen. Sie selbst hätte ihrem Leben nie einen
Sinn geben können.
    »Du musst es einmal aus meiner Perspektive sehen«, fuhr er fort.
»Lester und ich haben ein Anrecht auf Sicherheit. Oder nicht? Und morgen früh
kommen die Jungs aus Selkirk. Für dich ist das Scheiße. Aber es ist die einzige
Möglichkeit.«
    Chey atmete den Duft der Bäume tief ein. Dort oben wäre sie sicher.
Alle wären sicher, solange sie sich dort oben aufhielt. Der Turm hatte ihre
Wölfin vergangene Nacht sehr gut verwahrt – es würde wieder funktionieren.
    »Ich verstehe«, sagte sie und stieg
die Treppe hinauf.
    »Braves Mädchen!«, rief er ihr hinterher. Sie fuhr herum, um ihn anzulachen und anzuknurren, ihm einen
nicht ganz ernst gemeinten bösen Blick zuzuwerfen, aber er war bereits auf dem
Rückweg zur Hütte.

39   Silberlicht
kam und wogte hinter ihren Augen vorbei, und dann fand sich Chey nackt und
knurrend auf dem Boden wieder. Mit wunden Fingern und abgebrochenen Nägeln
krallte sie sich in die Fußbodenbretter, nagte mit den Zähnen daran. Ihre Wange
brannte, als sie das Gesicht immer fester gegen die Bohlen drückte, das Haar
fiel ihr in die Augen. Sie wimmerte, während ihre Finger immer fester kratzten,
ohne bei dem trockenen alten Holz etwas auszurichten.
    Dann schoss sie so plötzlich in die Höhe, dass ihr schwindelig
wurde. Was … was hatte sie getan? In dem Feuerturm war es finster, aber sie
wollte nicht aufstehen, um die Schlagläden zu
öffnen, bevor sie nicht wusste, was sie vorfand. Als sie das letzte Mal
in dieser Lage erwacht war und die Verwüstung des Raums durch ihre Wölfin
entdeckt hatte, war das wie ein Schock für sie gewesen.
    Ihre Hände waren steif und wund. Vorsichtig streckte sie die Finger,
glättete die Handflächen. Dann berührte sie den Boden. Zuvor hatte es dort
Kratzer gegeben, aber nun waren es deutliche Furchen. Vier schmale Gräben, und
einige tief genug, um ihre Fingerspitze darin zu versenken.
    Sie zog in der Dunkelheit ihre Kleidung an, stand auf und öffnete
zögernd einen der Schlagläden. Durch eine Pollenwolke fanden lange Strahlen des
nachmittäglichen Sonnenlichts herein. Die goldenen Sporen erfüllten die Luft
zwischen den Bäumen wie mit Nebel. Chey hörte Stimmen dort unten. Anscheinend
waren es mehr Menschen als bloß Bobby und Lester. Sie vernahm das wiederholte
dumpfe

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