Frostbite
Silberkugel war die Lösung. Chey sollte das Problem selbst
aus der Welt schaffen.
Sie hob die Waffe auf Schulterhöhe.
Machte es einen Unterschied, ob sie sich ins Herz oder in den Kopf schoss? Sich
das Gehirn wegzublasen, wäre vielleicht etwas weniger schmerzhaft. Bevor sie
überhaupt wüsste, wie ihr geschah, wäre sie verschwunden wie ein Rauchwölkchen,
das ein starker Windzug auflöste. Schoss sie sich ins Herz, würde es vielleicht
ein paar Sekunden dauern, bis sie starb. Unerträgliche, brennende Sekunden.
Aber war das Herz nicht viel traditioneller? So stand es doch in den
Geschichten geschrieben. Oder handelte es sich da um Vampire? Ach ja, richtig.
Es machte keinen Unterschied, wohin sie sich die Kugel setzte. Die Formel
lautete schlicht: Silberkugel plus Lykanthrop ist gleich toter Lykanthrop. So einfach war das.
Andererseits – was war, wenn sie sich irrte? Sie hatte nie mit
eigenen Augen gesehen, wie ein Wolf von einer Silberkugel getötet wurde. Was,
wenn sie sich in den Kopf schoss und es nicht funktionierte? Wenn sie bis zu
ihrer nächsten Verwandlung in Blut und zermatschtem Gehirn lag?
Chey hob die Waffe so lässig wie möglich und tippte sich mit der
Mündung gegen die Schläfe. Dann musste sie
lachen und legte die Pistole vorsichtig auf dem Boden ab.
Sie lachte, bis ihr bewusst wurde,
dass sie nicht damit aufhören konnte. Da schlug sie die Hände vor den Mund, krümmte sich zusammen und versuchte sich von
allem abzuschotten, bevor ihr Verstand auf den Boden tropfte.
Sie griff wieder nach der Waffe.
Zog in Betracht, es einfach zu tun. Dieses schreckliche Durcheinander zu
beenden, das ihr Leben nun einmal darstellte, war der einzige Ausweg, der ihr noch offenstand. Aber ihr Magen knurrte.
Sie war noch immer hungrig. Tatsächlich war sie nach fünf Tagen ohne Essen
sogar heißhungrig. Vielleicht half eine letzte Mahlzeit. Gab ihr die nötige
Kraft, um das Notwendige zu tun. Essen würde ihr vielleicht helfen, klar zu
denken und … Sie streckte die Hand aus und fand nur noch ein Stück feuchten
Schinken auf dem Boden. Die dicken Brotscheiben und das alte Salatblatt waren
verschwunden.
»Den kannst du haben«, sagte Dzo. »Ich bin Vegetarier, schon
vergessen?«
Dass er in der Ecke saß und auf einem Stück Brot herumkaute, war für
ihn so natürlich, auf so überzeugende Weise alltäglich, dass sie nicht
aufschrie. Mit einem zaghaften Lächeln sah
sie ihn einfach nur an. Er saß auf dem Boden, die Maske hochgeschoben,
den Pelzmantel ausgebreitet. Darin sah er aus wie ein dicker Bär, der gleich in
den Winterschlaf fallen würde.
»Powell ist weg und hat gesagt, ich kann ihm nicht folgen. So hat er
mich irgendwie hängen gelassen. Dachte mir, ich schau mal vorbei und sehe, wie
es der Gestaltwandlerin so geht«, sagte er, als hätte sie ihn gefragt, was er
hier wolle. Er warf einen Blick auf die Pistole, die sie locker in der Hand
hielt. »Nicht so toll, wie’s aussieht.«
»Ich war etwas … durcheinander«, erwiderte sie. Ihr wurde bewusst, dass
sie weinte. Und sie konnte einfach nicht damit aufhören. So dehydriert sie auch
war, ihr Körper schien noch immer über Tränen zu verfügen. »Versuch nicht, mich
davon abzuhalten«, sagte sie und hob die Pistole, bettelte ihn beinahe an, doch
genau das zu tun. Das Gewicht der Waffe wog schwer.
»Warum sollte ich das tun?«,
fragte er ganz unschuldig.
»Du bist kein Mensch«, sagte sie, als sei ihr diese Tatsache erst in
diesem Augenblick klar geworden. Sie hatte keine Ahnung, was er war, aber er
war eindeutig kein Mensch. Irgendein uralter Indianergeist oder dergleichen. »Du kannst unmöglich verstehen, was ich durchmache.«
»Weil ich kein Mensch bin, genau.«
Sie nickte langsam. »Sie hassen mich. Sie wollen, dass ich sterbe.
Ich kann nie wieder nach Hause zurück, kann mich nie wieder in der Gesellschaft
anderer Menschen sicher fühlen, für alle Ewigkeit.«
»Und das reicht schon, dass du sterben willst?« Dzo hob die
Schultern. »Merkwürdig. Monty hat sich nicht so gefühlt.«
»Aber sieh ihn dir doch an! Ganz allein hier oben! Ganz
allein – er hat bloß dich zur Gesellschaft. Was ich nicht gerade als
ausreichend betrachten würde, nichts für ungut.«
»Habe ich auch nicht so aufgefasst«, erwiderte er und schien es auch
so zu meinen.
»Ich kann nicht allein sein. Nicht für alle Ewigkeit. Sonst werde
ich wahnsinnig. So wahnsinnig, wie ich es eingesperrt hier drinnen wurde.
Irgendwann käme ich zu dem Schluss, dass ich
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