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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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bis zur nächsten Verwandlung schreckliche
Schmerzen. Und ich verbrächte gern so wenig Zeit wie möglich in diesem Zustand.
Der ideale Augenblick wäre ein Sprung wenige Sekunden vor meiner Verwandlung.«
Sie starrte ihn wieder an.
    »Tut mir leid.«
    Sie nickte und suchte ihre
Habseligkeiten zusammen. Die beiden Magazine, die fettigen Schinkenstücke
und die Pistole. Sie vergewisserte sich, dass der Sicherungshebel eingerastet
war, und schob die Waffe in die Hosentasche.
    »Falls ich auf dem Kopf lande und mein Gehirn in der Gegend
verteile«, sagte sie, »sterbe ich trotzdem nicht. Oder?«
    »Keine Ahnung«, gestand Dzo ein.
    Chey runzelte die Stirn und trat ans Fenster. Es war so leicht,
nicht zu springen. So leicht, weitere Zeit zu verschwenden.
Aber was, wenn sie sich in den nächsten Sekunden verwandelte? Und was,
wenn sie auf die nächste Nacht warten, noch einen weiteren Tag aushalten
musste?
    Und wenn sie sprang – und es immer noch Stunden dauerte?
    »Okay«, sagte sie. »Ich tue es.« Aber dann stand sie einfach bloß
da. Ihre Beine waren wie gelähmt. »Hilfst du mir?«
    »Ja, natürlich«, erwiderte Dzo. Er trat hinter sie und hob sie hoch,
als bestünde sie aus Papier. Dann warf er sie in den Wind, obwohl sie ihn
anschrie und bettelte, es nicht zu tun. Ein Blick zurück zeigte ihr eine Seite
des Feuerturms und Dzo als Silhouette am Fenster, die kaum vom Sternenlicht
erhellt wurde. Seine Maske war gesenkt.
    Sie stürzte.
    Die kalte Dunkelheit ringsum kam ihr vor wie der unüberbrückbare
Abgrund des Weltalls. Als wäre sie ein
Zeitpartikel, als schwebe sie in den Tiefen des intergalaktischen Raums.
    Im nächsten Moment schlug sie so
hart auf dem Boden auf, dass sie sich wie ein zertretener Käfer vorkam,
wie ein Fleck auf dem Waldboden.
    Der Schmerz war unvorstellbar. An einigen Stellen bohrten sich
Knochen durch die Haut. Knochenfragmente steckten in ihren Eingeweiden. In
ihrem Innern blubberte blutiger Atem – eine Lunge musste durchbohrt worden
sein. Sie sah nichts und fühlte nichts anderes als ihre Gedärme, die durch
einen Riss im Bauch nach außen drängten.
    Sie versuchte eine Hand unter den Körper zu schieben, versuchte
aufzustehen. Blut schoss ihr aus dem Mund, und sie sank zurück. Ihre
zerschundene Wange schabte über die Steine.
    Der Mond musste kommen. Sie flehte den Mond an, er möge erscheinen.
Er musste bald aufgehen. Der Mond. Er würde sie heilen. Er musste aufgehen.
Bald.
    Dann fühlte sie eine Hand, die sich um ihre Finger schloss. Sie war
glatt und klein, fast feminin. Es war die Hand eines Fremden, aber das war ihr
einerlei. Den winzigen Funken Trost, den sie
aus dieser menschlichen Berührung gewann, war immerhin etwas, ein
Tropfen Wasser auf einer verdorrten Zunge. Es tat nicht weh – das war die
Hauptsache.
    Wer war das? Wer konnte das sein?
Aber war überhaupt jemand da? Vielleicht erlebte sie bloß eine Halluzination,
vielleicht versuchte ihr verzweifelter Verstand, einen Trost zu finden,
erschuf Reales, wo es nichts Reales gab. Sie wollte darüber nachdenken, hatte
aber keine Möglichkeit zu fragen. Ihr Blick war getrübt, sie konnte nichts
erkennen. Niemand sprach zu ihr – und falls doch, hörte sie es nicht.
    Der Atem stockte ihr in der verletzten Lunge, und eine Sekunde lang
überfiel sie Panik, aber die Hand griff nur fester zu, und sie beruhigte sich
wieder, fühlte, wie sie zur Ruhe kam, und dann strömte die Luft aus ihr hinaus und hörte sich an, als entweiche sie aus
einem zerrissenen Ballon.
    Wem gehörte diese Hand?
    Eigentlich spielte es keine Rolle.
    Siebenundvierzig Minuten lang lag sie zerschmettert auf dem
Waldboden. Sie konnte die Zeit nicht messen – ihr kam es vor wie Hunderte
von Stunden. Ohne diese Hand, die sie hielt, hätte es sich wie eine Ewigkeit
angefühlt.
    Dann senkte sich das Silberlicht wie ein Segen über sie, ein
göttlicher Hauch der Gnade.
    Verwirrt und mit noch immer dröhnendem Schädel erhob sich die Wölfin
auf die starken Beine und begrüßte ihre neu gefundene Freiheit mit lautem
Geheul.

47   Wie
Pilze nach einem Regenguss stachen rings um den Turm weiße Röhren aus dem Boden
hervor. Sie stanken nach Männern. Sie stanken nach Timberwölfen und Silber.
Ratlos schlich die Wölfin darum herum. Sie
studierte die Röhren, inspizierte sie mit Nase und Augen und Ohren. Sie
leckte darüber und fühlte ein Vibrieren,
fühlte die Spannung im Innern wie die Furcht im Bauch einer Feldmaus. Sie
leckte über die Öffnung, schmeckte

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