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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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entdecken.
    Sie stapfte in den toten Wald hinein und fand sich bald an einem Ort
wieder, der ihr so trostlos wie die Rückseite des Monds vorkam. Keine Eulen
schrien in der Düsternis, aus der Asche
wuchsen keine Wildblumen hervor, um in der Brise zu erzittern. Es gab auch nur
wenige Insekten. Hauptsächlich waren es Käfer, die ihre schmierig
aussehenden Flügel aus den Rückenpanzern ausfuhren, wenn Chey näher kam, und
auf langen gewundenen Pfaden von ihr wegschwirrten. Sie berührte die weißen
Stämme der toten Bäume, an denen sie vorüberschritt, und das Holz war trocken
und rau, als wäre es versteinert.
    Sie hatte noch immer keine Ahnung, wo genau sie eigentlich war. Von dem Bach aus, an dem Frank
Pickersgill gestorben war, war sie nach Westen gegangen. Wie sehr sie
sich auch verirrte, ihre Wölfin fände schon den richtigen Weg, sobald der Mond
wieder am Himmel stand. Davon war sie überzeugt.
    Schließlich nahm der Baumbestand
immer mehr ab, bis sie sich nicht länger in einem Wald aufhielt, sondern in
einem sandigen Flachland, in dem gelegentlich tote Baumstümpfe in die Höhe
ragten. So weit der Blick reichte, sprudelten Bäche über nackte Felsen und
niedrige Schneewehen. Nach der Dichte des Walds hatte Chey das Gefühl, den Rand
der Welt sehen zu können. Das Sternenlicht malte den Boden weiß und das Wasser
schwarz, so erschien die Welt gestreift und scheckig. Am Horizont entdeckte sie
eine Fläche, die auch ein Meer sein konnte – eine endlose zerknitterte
Wassermasse. Vermutlich das Ufer des Großen Bärensees.
    Sie schritt weiter aus.
    Als die Sonne aufging, war sie noch immer ein Mensch. Die Wärme auf
Rücken und Schultern brachte ihre Haut zum Kribbeln und linderte die Steifheit
der Gelenke, während sie das endlose flache Land in gelbes Licht tauchte. Es
fühlte sich gut an. Aber Chey wusste, dass das nicht lange anhielt.
    »Dzo«, sagte sie, als könne er sie hören. Möglicherweise hörte er
sie sogar.
    Hinter sich vernahm sie ein Plätschern und beobachtete, wie er aus
einem schwarzen Teich stieg. Wasser strömte aus seinen Fellen, aber als er sie
erreichte, war er schon wieder trocken. Er schob die Maske nach oben. Ȁh,
ja?«, fragte er, als hätte er sie die ganze Zeit begleitet. Sie hatte immer
noch nicht die geringste Ahnung, wer er in Wirklichkeit war, aber ihr war klar,
dass er viel besser in diese seltsame Landschaft passte, als es ihr jemals
möglich wäre.
    »Dzo«, sagte sie, »ist es noch weit?«
    »Ja«, antwortete er. »Aber deine Wölfin kann es noch heute
schaffen.« Er runzelte verwirrt die Stirn. »Hast du etwa Angst?«
    Sie nickte. »Ja, ich habe Angst.«
    »Menschen scheinen oft Angst zu
haben. Wenn Tiere sich fürchten, dann sind sie manchmal einfach wie
gelähmt. Verstehst du? Ihre Muskeln erstarren, und sie können sich nicht
bewegen. Hast du das schon einmal versucht?«
    »Das wird bei mir nicht gelingen. Dzo – ich habe jemanden
getötet. Sozusagen. Ich weiß nicht, was nun aus mir wird.«
    »Ein Raubtier?« Er setzte sich auf den Boden und rieb sich die
Hände. »Ich bin wirklich nicht der Richtige, dem du solche Fragen stellen
solltest.«
    Sie nickte. »Ich weiß. Seltsam bloß, dass ich weniger Angst davor
habe, umgebracht zu werden, als wieder mit Powell zu sprechen. Aber das kannst
du nicht verstehen.«
    Hilflos und entschuldigend hob er die Hände. »Vielleicht wirst du ja
getötet, bevor es dazu kommt«, meinte er.
    »Ja.« Sie setzte wieder einen Schritt vor den anderen. »Danke, Dzo.«
    »Keine Ursache. Hör zu!«, rief er ihr hinterher. »Weiter gehe ich
nicht. Man hat das Wasser hier vergiftet, und ich kann dir nicht mehr folgen.
Falls du Powell siehst, richtest du ihm etwas von mir aus?«
    »Klar«, erwiderte sie und drehte sich dabei um, ging rückwärts
weiter.
    »Sag ihm, dass ich seine Stiefel auf meinem Truck habe. Falls er
danach sucht.«
    Chey lächelte. Irgendwie schien es ihr nicht angemessen, aber es
gefiel ihr trotzdem. »Mache ich.«
    Eine Stunde nachdem die Sonne aufgegangen war, folgte ihr der Mond.

51   Die
Wölfin verstand nicht, warum sich der Atem in ihren Lungen so widerlich und
bitter anfühlte. Sie verstand nicht, warum ihre Haut kribbelte, als sie sich
ihrem Ziel näherte. Aber es kümmerte sie auch kaum. Menschengestank verpestete
die Luft, und ein paar Toxine würden sie nicht aufhalten.
    Sie trottete einen Os hinauf, eine lange Schmelzwassersandschicht
auf einem Felsdamm, die Gletscher dort zurückgelassen hatten, als noch

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