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Frostblüte (German Edition)

Frostblüte (German Edition)

Titel: Frostblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Marriott
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ermordet.«

Sieben
    Ich saß schweigend da und starrte auf den schlafenden Mann mir gegenüber. Die mit Asche bedeckten Überreste des Lagerfeuers strahlten noch schwache Hitze aus, doch das trübte meine Sicht kaum. Luca lag auf dem Rücken, einen Arm unter dem Kopf, den anderen über dem flachen Bauch, die Finger leicht gekrümmt. Er atmete tief und gleichmäßig.
    Das blasse Gold der Morgendämmerung, das durch die Blätter schimmerte, warf ein seltsames Leuchten auf sein regloses Gesicht. Er sah unwirklich aus, wie ein Geschöpf aus einem Kindermärchen. Vielleicht wie ein Waldelf in Menschengestalt, der Mädchen mit seiner überirdischen Schönheit verführte. Elfen lockten ihre Opfer in den Wald, und wenn sich die Mädchen unter die Zweige legten und vor Liebe starben, lieferten ihre Körper Nahrung für die Baumwurzeln und machten den Waldelf unsterblich. Lucas Gesicht hätte ihm eine lange Existenz gesichert.
    Ich seufzte über diesen für mich untypischen Anflug von Schwärmerei. Luca war ein ganz durchschnittlicher Sterblicher. Und ich würde mich weder von ihm noch sonst irgendjemand umgarnen lassen. Ich würde weggehen, und zwar auf der Stelle.
    Doch zuerst musste ich eines tun.
    Mit der gleichen Vorsicht, mit der ich mich über die dünne Eisschicht eines zugefrorenen Sees bewegt hätte, schlich ich um das Feuer und kniete mich neben meinen schlafenden Entführer. Sein Hemd war über Nacht verrutscht und meine Halskette lag nun auf seinem Herzen. Das Hemd stand offen und entblößte die goldene Haut seiner Kehle. Die Halsschlagader pulsierte kräftig. Meine Finger hingen über seiner Brust in der Luft.
    »Schläfst du immer so fest?«, flüsterte ich mit kaum hörbarer Stimme. »Oder traust du mir wirklich nicht zu, dass ich dich ersteche, während du träumst?« Die Worte sollten spöttisch klingen. Aber irgendwie taten sie es nicht.
    Nun mach schon. Ich schob meinen Zeigefinger in seine Brusttasche und berührte Leder.
    Er seufzte. Hastig schaute ich auf und beobachtete sein Gesicht. Die Augenlider mit den langen, weizenfarbenen Wimpern flatterten, öffneten sich jedoch nicht. Ich schob einen zweiten Finger nach. Seine Haut war warm, selbst durch das Leinen. Ich konnte die Muskeln spüren.
    Ich hakte vorsichtig einen Finger um das Lederband und zog es heraus. Luca gab ein leises Geräusch von sich. Ich hielt inne und sah ihm wieder ins Gesicht. Seine Augen waren noch immer geschlossen, doch nun runzelte er leicht die Stirn und seine Lippen öffneten sich ein wenig. Der Puls an seinem Hals schien schneller zu gehen. Ich wagte nicht zu atmen oder mich zu bewegen, während ich ihn beobachtete. Er seufzte erneut, drehte den Kopf auf dem Arm und lag wieder still.
    Er schlief. Er musste schlafen.
    Mit einem letzten vorsichtigen Ruck zog ich den Wolfszahn heraus. Die Erleichterung, ihn wieder in der Hand zu halten, war beinahe so groß wie die, Luca nicht aufgeweckt zu haben. Ich lehnte mich zurück und zog das dünne Lederband über den Kopf. Dann hob ich die Decke und den Wasserschlauch auf und hängte sie mir wie zuvor um, die Decke über meine Schulter und den Riemen des Wasserschlauchs quer über meinen Körper. Einen Moment lang zögerte ich und blickte mich auf der Lichtung um. Gleich darauf ärgerte ich mich über mich selbst. Worauf wartest du? Du hast nichts vergessen. Du besitzt schließlich nichts, was du vergessen könntest.
    Ich verließ die Lichtung und konzentrierte mich darauf, kein Geräusch zu verursachen. So kam ich nicht in Versuchung zurückzublicken.
    Eine Weile lang sorgten mein Erfolg, Luca entkommen zu sein, und das Mahl der letzten Nacht in meinem Bauch für ein Gefühl von Fröhlichkeit, sogar Unbeschwertheit. Ich lächelte, als ich durch die weißen Nebelfetzen lief, die vom feuchten Waldboden aufstiegen, und lauschte voller Freude dem Vogelgezwitscher. Doch je weiter ich mich von der Lichtung entfernte, umso mehr verdüsterte sich meine Stimmung.
    Nichts hatte sich seit gestern geändert.
    Ich wusste noch immer nicht, wohin ich gehen oder wie ich meinen Lebensunterhalt sichern sollte. Wäre ich frei gewesen, wirklich frei, hätte ich in der nächsten Stadt mein Glück versucht und dort nach Arbeit gefragt. Doch wie sollte ich, in diesem Zustand? In einer Stadt wären immer Dutzende Menschen um mich herum. Es brauchte nur einen übereifrigen jungen Mann, der angetrunken war und Nein nicht als Antwort gelten ließ, einen Halsabschneider, der mich für leichte Beute hielt,

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