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Frostblüte (German Edition)

Frostblüte (German Edition)

Titel: Frostblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Marriott
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Ruan war ich ein unbeschriebenes Blatt. Ich konnte mich tatsächlich dafür entscheiden, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Vorausgesetzt, ich konnte mich dazu durchringen, Lucas Worten Glauben zu schenken.
    Meine Angst zu bekämpfen. Meine blinde Wut zu lenken. Menschen zu helfen, statt ihnen Schaden zuzufügen. Einen Platz zu finden und dort zu bleiben, statt immer wegzulaufen, mit dem ständigen Blick über die Schulter. Ich wusste nichts über Luca oder dieses Land. Ich wusste nicht, ob das, was er mir angeboten hatte, wirklich möglich war. Doch wie er gesagt hatte: Ich musste eine Entscheidung treffen. Ich musste mich entscheiden, ob ich ihm glaubte. Ob ich an mich glaubte.
    Als ich die Hand auf meine Wange legte, war die Haut, die Luca berührt hatte, noch immer warm.
    Ich verstaute meine Sachen ordentlich in meinem Bündel, legte das zusammengefaltete Sackleinen darauf und band die Axt meines Vaters fest. Dann warf ich mir die Trageriemen über die Schulter und stand auf. Ich nickte den Gräbern von Nicu und Abhay respektvoll zu.
    Das Licht verdunkelte sich von Honig zu Bernstein, während ich durch das raschelnde Laub lief, und färbte sich blau, als die Sonne hinter den Bergen versank. Ich machte einmal Rast, um etwas zu essen und zu trinken. Am Himmel gingen die Sterne auf und der Wind wurde eisig.
    Ich hörte Gesang.
    Ich trat aus dem Wald heraus. Als ein Wachposten auf mich zueilte, nahm ich meinen Mut zusammen und hielt die Hände hoch, um zu zeigen, dass ich unbewaffnet war. Auch wenn es zu dunkel war, um sein Gesicht zu erkennen, konnte ich seinen prüfenden Blick spüren. Er nickte und deutete auf die Mitte des Lagers. Auf den Schein des Feuers.
    Hier und da brannten Fackeln, es waren nicht genug, um das Lager tatsächlich zu beleuchten. Die Sterne schienen direkt über den Zelten zu schweben, sie glänzten silbern im dunklen Blau. Dieselbe tiefe, wunderschöne Stimme, die ich in der Nacht meiner Flucht gehört hatte, rief mich näher, sie sang dasselbe bewegende Lied. Die Holzflöte stimmte ein.
    Als ich zwischen zwei Zelten heraustrat, saß eine Gruppe um eine Feuerstelle – zwanzig, fünfundzwanzig Bergwächter, vielleicht auch mehr. Einige hatten sich auf langen, glatt polierten Holzstämmen niedergelassen, die im Dunkeln weiß leuchteten. Andere saßen im Gras. Die Farben der Flammen, die auf ihren Gesichtern tanzten, verbargen ihren Gesichtsausdruck. Ich erkannte niemanden. Falls Luca dabeisaß, sah ich ihn zumindest nicht.
    Blaue und orangefarbene Funken stoben in den Himmel. Die Versammelten hoben beim Singen die Gesichter und blickten ihnen nach. Selbst aus der Entfernung konnte ich spüren, wie die Hitze des Feuers durch die Reihen der Singenden strahlte und meine kalten Wangen und Hände wärmte.
    »Leb wohl, mein Lieb, gedenke stets,
    wie ich einst weilt’ bei dir;
    lass dir mein Herz, mein Lieb, leb wohl,
    ich hoff, du weinst nicht mehr …«
    Ich kniete mich unbemerkt an den Rand der Versammlung und stimmte in ihren Gesang ein.

Ich kann meine Zehen nicht mehr spüren. Ich ziehe mich mit den Händen den Berg hinauf; als ich mich durch die dünne Schneeschicht zu dem steinigen Boden darunter vorkämpfe, brechen Nägel ab, Haut reißt ein. Meine Sicht verschwimmt und mein Herz scheint mir im Halse zu stecken. Ich zwinge mich vorwärtszugehen, zu den Felsen, die auf der Hügelspitze aufragen. Wenn ich sie erreiche, kann ich mich vielleicht verstecken. Kann ich vielleicht entkommen.
    Die Stimmen der Wölfe, die mich überreden wollen, sind nun verstummt. Ihre Klauen knirschen rhythmisch hinter mir durch den Schnee. Näher, näher, immer näher. Leise, keuchende Atemzüge. Gellendes, gieriges Heulen. Bis auf die Geräusche ihrer Verfolgungsjagd ist kein Laut in der Nacht zu hören.
    Sie wissen, wann ihre Beute ihre Grenze erreicht hat.

Zehn
    Berichte über den Vorfall in meinem alten Dorf verbreiteten sich in Uskaand, so wie sich im Winter Eis über einen Brunnen legt: schnell und unaufhaltsam. Eine Zeit lang konnte jeder eine Geschichte über ein wildes Wolfsmädchen erzählen, das mit spitzen, gierigen Fangzähnen und funkelnden Silberaugen durchs Land streifte. Wenige schenkten den Geschichten Glauben, Kinder jedoch schnappten nach Luft und kicherten bei der Vorstellung eines solchen Geschöpfes und fragten sich, ob sie sich wohl im dunklen Wald versteckte oder in der kargen Einsamkeit der Ebenen. Selbstverständlich niemals in einem Dorf wie dem ihren.
    Es dauerte vier Jahre,

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