Frostblüte (German Edition)
sich nie wieder richtig ineinanderfügen, egal wie gekonnt man sie kittet. Vielleicht kann ich nur so die Erinnerungen in meinem Kopf ertragen.
Es gibt einen Augenblick des Grauens, als ich das hungrige Funkeln in Werriks Augen sehe.
Bleib ruhig.
Es gibt einen Augenblick mit verschwommenen Bäumen und einem unvermittelt stechenden Schmerz an meiner Stirn, als ich ihm auszuweichen versuche und er mich festhält und mich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden drückt.
Halt dich raus.
Es gibt einen Augenblick mit Händen, Jungshänden, dünn und weich und knochig, doch stark wie die eines Mannes, die sich um meine Kehle legen. Würgemale, die auf meiner Haut brennen. Das laute Geräusch, als mein Schultertuch zerreißt. Der Schweißgestank.
Kämpfe nicht.
Es gibt einen Augenblick, in dem ich meine eigenen Schreie höre, als mich Werriks Gewicht niederdrückt, in dem mein Gesicht taub wird, als er meine Nase in die Erde rammt. Als Blut über mein Gesicht läuft.
Und dann die Stimme meines Vaters. Dieses Mal spricht er keine Worte, es ist nur ein zorniges Heulen.
Eis rast durch meinen Körper, Kraft und kalte Wut durchfluten mich.
Der Wolf hat von mir Besitz ergriffen.
Ich war froh. Ich war froh. Ich war froh.
Bis mich der Wolf wieder verließ. Mich dort über Werrik kniend zurückließ, meine Hände voller Blut, das nicht meines war, mein zerrissenes Kleid mit weißen Knochensplittern und anderem, Schlimmerem besudelt.
Bis ich auf Werrik hinunterblickte. Auf das, was von Werriks Gesicht übrig war.
Und dann war es zu spät. Zu spät, um zu sagen, dass ich ihn nur abhalten, mich verteidigen, losreißen wollte. Zu spät, um es zurückzunehmen.
Vierzehn
»Worüber du nachdenken sollst«, sagte Luca, als er sich auf der Lichtung hinter seinem Zelt im Schneidersitz im Gras niederließ, »ist der Raum um dich herum. Versuche ihn dir wie … eine Blase vorzustellen. Eine Kugel, die gerade groß genug ist, um sie bei ausgestreckten Armen mit den Fingerspitzen zu berühren.«
Ich kauerte mich enger zusammen und sah mich auf der Lichtung um. Der Himmel war verhangen und die Luft feucht. Ich war verschwitzt und fühlte mich klebrig und unwohl, auch wenn ich bisher nichts weiter getan hatte, als zur Lichtung zu gehen und mich hinzusetzen.
»Hörst du mir schon jetzt nicht mehr zu?«, fragte Luca. »Wir haben noch nicht mal angefangen!«
»Nein – ich versuche es, aber – ich verstehe das alles nicht so ganz. Also, wie mir das helfen soll.«
Lucas betrachtete mich nachdenklich. Ich versuchte seinem durchdringenden Blick standzuhalten. »Dein Wolf, der ›Fluch‹, der auf dir lastet, meldet sich, wenn du verletzt bist, richtig? Wenn du dein eigenes Blut siehst.«
Ich nickte zögernd.
»Dann muss die Strategie ganz klar darin bestehen, dich stärker und schneller – zu einer besseren Kämpferin – zu machen, damit du im Kampf nicht so schnell verletzt werden kannst.«
Ich nickte wieder, dieses Mal eifriger.
»Doch das allein wird das eigentliche Problem nicht lösen. Wir müssen an den Ursprung zurück, müssen herausfinden, was der Wolf ist und warum er auf diese Weise auf dein Blut reagiert. Vielleicht würde es helfen, wenn du mir zuerst – bevor wir zu arbeiten anfangen – mehr über den Wolf erzählst. Was weißt du über ihn? Wie genau läuft es ab?«
Ich saß einen Augenblick schweigend da und suchte nach Worten, um den Glauben zu erklären, mit dem ich mein ganzes Leben gelebt hatte. »In-in Uskaand gab es zwei Götter«, begann ich zögerlich. »Der erste ist Askaan. Der Gott des Lichtes und der Gerechtigkeit. Für ihn werden Tempel gebaut, er wird verehrt, zu ihm wird gebetet. Sein Bereich ist die Welt der Menschen und ihrer Geister. Er entscheidet, welche Kinder geboren werden sollen und wann für jeden die Zeit gekommen ist zu sterben. Der Gott des Anderen ist … ist kein richtiger Gott. Das predigen zumindest die Priester Askaans in ihren Tempeln. Sie behaupten, er sei das Gegenteil Askaans. Kein göttliches, sondern ein dunkles Geschöpf. Die meisten Städte haben einen Priester des Anderen, doch sie sind nur … eine Art Schutzmaßnahme. Um den Anderen fernzuhalten. Für den Gott des Anderen werden keine Tempel gebaut. Die Menschen verehren ihn nicht und beten auch nicht zu ihm. Sein Name wird niemals ausgesprochen. Er ist der Gott der wilden Geschöpfe, der Fehlgeburten, der Krankheit und des Leidens. Manche nennen ihn den ›Wolf‹, weil erzählt wird, dass er diese Gestalt annimmt,
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