Frostblüte (German Edition)
zwang mich, Lucas beruhigender Stimme zuzuhören: »… Langsam einatmen. Jetzt ausatmen. Einatmen. Aus. Spüre deinen Atem. Fühle deinen Körper, sein Gewicht und seine Kraft. Spüre das Leben in deinem Körper, das Licht, das in dir lebt. Versuche es in deinen Gedanken zu sehen.«
Das Licht in mir wäre wie das Licht der Kugel. Blau, leuchtend. Ich konnte die Kälte beinahe spüren. Das Gefühl war in Anbetracht der klebrigen Feuchtigkeit des Tages seltsam angenehm.
»… Sieh, wie das Licht durch deine Venen flutet, in deine Fingerspitzen, dein Gesicht, deine Lungen, deine Beine. Einatmen. Ausatmen.«
Ich stellte mir vor, wie ich von dem gleichmäßigen, silbrig blauen Licht durchflutet wurde. Es fühlte sich erstaunlich echt an. Fast glaubte ich, den eisigen Schimmer, der mich von innen erleuchtete, durch meine Haut erkennen zu können, wenn ich die Augen öffnete.
»Du hast Ängste und Zweifel. Sie verursachen ein beklemmendes Gefühl in deiner Brust und deinem Magen, hab ich Recht? Diese Gefühle sind ein Schatten in dir, eine Dunkelheit, die das Licht dämpft. Hol tief Luft und saug diesen Schatten, all diese Dunkelheit, tief hinunter in deine Magengrube. Kannst du es sehen?«
Ich nickte. Während ich atmete, konnte ich die langen, verschlungenen Stränge Dunkelheit erkennen, die sich aus dem filigranen Muster aus Venen und Knochen herauslösten; ich zog sie von den Stellen, wo sie das silbrige Licht ausblendeten. Sie sammelten sich in der Mitte meines Körpers. Die negativen Gefühle – Wut, Angst, Trauer, Schmerz – rangen und kämpften dort, krampften sich zusammen wie eine Faust aus schwarzem Dunst.
»… Hol noch einmal tief Luft. Jetzt atme aus, ausgiebig und langsam, und stell dir vor, wie diese Dunkelheit, all diese Gefühle in dir, nach oben und dann aus dir herausfließen.«
Ich spürte, wie die würgende Schwärze zusammen mit meinem Atem aus meiner Kehle wich; ich sah sie wie Rauch in die Luft steigen und verbrennen, in Fetzen gerissen von Luft und Licht. Das Licht flutete in den entstandenen Raum und strahlte mit neuer Leuchtkraft. Für einen Moment sah ich die wechselnden Farben aus dem Feuer der Urmutter darin: Grün und Purpur und leuchtendes Türkis und Silber. Doch die Flammen verströmten keine Hitze. Das silbrig-blaue Licht und die Pfauenschattierungen tanzten zusammen, winkten mich heran und zogen mich hinein. Ich wollte loslassen, mich in dem Licht verlieren …
Ein weiterer Schauder durchfuhr meinen Körper und ließ meine Finger und Zehen zucken.
Meine Tochter …
Ich riss die Augen auf und schlug die Hände auf das pikende Gras. Ich starrte sie an. Sie waren braun. Das Gras war grün. Mein Atem bildete keine Atemwolken in der Luft. Ich war in Sicherheit. Ich musste in Sicherheit sein.
Bitte, bitte lass mich in Sicherheit sein.
»Alles in Ordnung?« Ich hatte nicht gehört, wie er sich bewegte – das tat ich nie –, doch plötzlich kniete er neben mir, eine Hand legte sich leicht auf meinen Rücken. »Was ist passiert?«
Was war passiert?
Es war wohl wieder meine Einbildungskraft, so wie letzte Nacht am Feuer. Das war die einzige Erklärung. Es war neu für mich und ich hatte Angst bekommen und … das war alles.
»Ich weiß nicht«, sagte ich, was mehr oder weniger der Wahrheit entsprach. »Ich habe das Licht gesehen, wie du gesagt hast. Es war … seltsam.«
Luca rieb mir den Rücken, es war eine abwesende, tröstliche Geste. Statt vor der Berührung zurückzuschrecken, sehnte ich mich nach mehr.
»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte er. »Es bedeutet, dass du tief in dich gegangen bist. Ich finde, du hast dich gut geschlagen, vor allem für das erste Mal.«
Sein Lob ließ meine Wangen glühen und vertrieb die Kälte, die die seltsame Trance ausgelöst hatte. Ich senkte den Kopf und ertappte mich dabei, dass ich die warme, goldene Haut seiner Kehle anstarrte, die sein achtlos zugebundenes Hemd entblößte. Seine Brust- und Armmuskeln wölbten sich unter dem dünnen Stoff. Seine Hand auf meinem Rücken schien Wärme auszustrahlen. Ein weiterer Schauder durchfuhr mich, doch dieses Mal war es nicht die Kälte, die meinen Körper zittern ließ.
»Frost?«
Ich blickte ihm in die Augen. All meine Gefühle waren mir wohl klar und deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich hörte, wie er scharf Luft holte.
Seine Hand legte sich auf meine Wirbelsäule, Fingerspitzen strichen über die nackte Haut über meinem Hosenbund. Er wiederholte meinen Namen und dieses Mal … dieses
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