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Frostblüte (German Edition)

Frostblüte (German Edition)

Titel: Frostblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Marriott
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sagte er: »Es tut mir leid. Ich hätte nicht so reden sollen.«
    Ich nickte zögernd und nahm die Entschuldigung an.
    »Ich weiß, dass du bloß versuchst auf mich aufzupassen«, sagte Luca sanft. »Du hast immer auf mich aufgepasst. Aber hör bitte auf, dir Sorgen zu machen, Bruder.«
    Bruder? Das Wort stachelte meine Neugier an – waren sie trotz ihrer Verschiedenheit womöglich wirklich Brüder? Warum hatte keiner das erwähnt? Ich war allerdings nicht im Geringsten versucht, sie zu unterbrechen und Fragen zu stellen. Es kam mir vor, als wäre ein Wirbelsturm durchs Zelt gefegt und hätte mich um Haaresbreite mitgerissen. Ohne Lucas Einschreiten wäre das wohl passiert.
    Arian umfasste Lucas Unterarm. Dann ging er zum Zelteingang und schlug die Plane wieder hoch. Er blieb in der Öffnung stehen und sah mich an.
    Mir wurde klar, dass er darauf wartete, dass ich ihm nach draußen folgte. Meine Wangen fingen wieder an zu glühen. Allein um der unerträglichen Peinlichkeit ein Ende zu machen, war ich bereit mitzugehen, doch da sagte Luca bestimmt: »Gute Nacht, Arian.«
    Arian nickte Luca ein knappes »Gute Nacht« zu und ging hinaus. Luca starrte eine ganze Weile auf den Zelteingang. Dann hellte sich seine Miene auf. Mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen wandte er sich zu mir. »Möchtest du sehen, wie ich den Köchen ein spätes Abendessen abschwatze? Wir können bei einem nächtlichen Picknick über deine Ausbildung reden.«
    Trotz meiner Verlegenheit konnte ich ein Grinsen über seine jungenhafte Freude nicht unterdrücken. Die Sorgen, die auf ihm gelastet hatten, als er ins Zelt kam, schienen von ihm abgefallen zu sein. »Nach Ihnen, Hauptmann«, sagte ich.
    Wir lebten erst seit ein paar Tagen in dem neuen Dorf, als ich merkte, dass der Junge mir folgte.
    Ich konnte nicht sagen, wie ich es spürte. Er hatte nie versucht mit mir zu reden und musterte mich immer nur aus dem Augenwinkel. Gut, er schien immer genau dort zu sein, wo ich gerade war, meistens stand er allerdings bereits im Getreideladen oder am Brunnen, bevor ich kam, es war schließlich ein kleines Dorf. Die Bewohner liefen sich zwangsläufig über den Weg.
    Der Junge hieß Werrik. Er war achtzehn und – ungeachtet seiner langen, linkischen Gliedmaßen und seines Pickelgesichts – in den Augen der meisten ein erwachsener Mann. Trotzdem verrichtete Werrik keine Arbeit. Er erlernte kein Handwerk. Die Männer nahmen ihn nicht mit auf die Jagd und er bestellte auch nicht das Land seiner reichen, verwitweten Mutter. Dafür beschäftigte sie andere. Die Frauen des Dorfes zupften ihre Röcke zur Seite, wenn er vorbeiging, und tuschelten hinter vorgehaltener Hand – das Getuschel verstummte allerdings, sobald Ma oder ich näher kamen.
    Wir waren die Neuen, praktisch Ausländer, und auch wenn Ma die Dorfbewohner pflegte und ihre Kinder heilte, teilten sie ihre Geheimnisse nicht mit uns. Es war das Risiko nicht wert, dass ihre Worte Werriks Mutter, die den Lohn vieler Ehemänner bezahlte, zugetragen werden könnten.
    Sie betrachteten mich mit mitleidigen Augen und schwiegen.
    Ich versuchte mir einzureden, dass ich mir das Ganze einbildete. Mir war sehr wohl bewusst, dass ich unansehnlich, stämmig und farblos war. Warum sollte mir irgendjemand folgen? Oder mich überhaupt anschauen? Ich konnte es nicht ertragen, Angst und Sorge auf Mas Gesicht zu sehen oder sie zu einem weiteren Umzug zu zwingen, solange nichts passiert war. Also behielt ich die Furcht und Besorgnis für mich. Und ich betete – nicht zum Gott meines Volkes, dem Gott, der mich im Stich gelassen hatte, sondern zu der Erinnerung an meinen Vater.
    Wir blieben.
    An jenem Tag – einem frischen Wintertag, frostig und klar, sechs Wochen nach unserer Ankunft im Dorf – hatte Ma mich losgeschickt, um ein bestimmtes Baummoos für einen ihrer Brustwickel zu sammeln. Es war dringend. Der Müller, einer der Dorfältesten und die zweitreichste Person nach Werriks Mutter, lag krank danieder und spuckte Blut. Wenn Ma ihm Linderung verschaffen konnte, war eine Menge Geld für uns drin.
    Ich blieb am Waldrand, wo ich das Dorf noch sehen konnte, und hielt Augen und Ohren offen. Doch Werrik kannte den Wald weit besser als ich. Als ich spürte, dass er in meiner Nähe war, stand er bereits hinter mir.
    Ich will mich nicht daran erinnern.
    Für mich ist es eine Abfolge von Augenblicken, ungeordnet und zusammenhanglos, jeder dunkel überschattet. Wie Scherben eines zerbrochenen Gefäßes, deren Ränder

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