Frostengel
gesucht?«, warf ich ein.
Ratlos sahen mich Julias Eltern an. Ich merkte, dass ihnen dieser Gedanke nicht gekommen war. An ihren Gesichtern konnte ich die Zweifel erkennen, die ich heraufbeschworen hatte. Nun war es zu spät. Ich wünschte, ich hätte meine Worte zurücknehmen können.
Julias Vater legte seinen Arm über die Schultern seiner Frau. »Was Theresa gesagt hat, stimmt. Die Brücke liegt nicht auf dem Heimweg – weder wenn sie mit dem Bus gefahren ist noch wenn sie zu Fuß gegangen wäre. Doch wenn ich eines weiß, dann das: Unsere Tochter hätte niemals auch nur mit dem Gedanken gespielt, Selbstmord zu begehen. Hörst du? Julia hat sich nicht umgebracht. Sie ist nicht gesprungen!«
Seine Worte taten mir gut. Nicht Julias Eltern zweifelten, sondern ich. Ich wünschte, ich hätte mir genauso sicher sein können wie sie. So wie Julia durch den Wind war, seit sie Melissas Leiche gefunden hatte – wäre es möglich gewesen, dass sie eine Kurzschlusshandlung begangen hatte? Vielleicht während so einer Angstattacke, die sie in letzter Zeit häufiger hatte. Sie hatte es heruntergespielt, aber mir konnte sie nichts vormachen. Ich hatte sehr wohl gemerkt, wie panisch sie gewesen war. Bei jedem fremden Geräusch war sie zusammengezuckt. Doch wovor hatte sie sich so gefürchtet?
Gleichzeitig weigerte sich alles in mir zu glauben, dass Julia ihrem Leben ein Ende setzen wollte. Und dass ich nichts davon geahnt hatte.
Ich werde es herausfinden, schwor ich mir. Auch wenn ich es nicht aussprach, gab ich mir und Julias Eltern ein Versprechen: Ich würde alles daransetzen, die Umstände um Julias Tod aufzuklären. Um zu verstehen, was in Julia in diesen letzten Stunden vorgegangen war, als ich nicht habe bei ihr sein können. Als ich sie wieder einmal allein gelassen hatte, als sie mich am nötigsten brauchte. Ich musste einfach herausfinden, was passiert war.
Julias Vater hatte mir angeboten, mich nach Hause zu bringen, doch ich hatte abgelehnt. Ich sagte, ich bräuchte ein wenig frische Luft und Bewegung, um einen klaren Kopf zu bekommen. Die Wahrheit konnte ich ihm nicht sagen. Ich wollte mir ansehen, wo Julia gefunden worden war. Was genau ich zu finden hoffte, wusste ich nicht, aber irgendwo musste ich anfangen.
Wenig später stand ich auf der alten Füßgängerbrücke, beugte mich über das Geländer und blickte hinunter. Wo Julia gelegen hatte, konnte man gar nicht übersehen. Rundherum war der Schnee zertrampelt, schwarz blitzte die Erde durch und dort, wo Julia aufgeschlagen war, hatte ihr Blut alles rot gefärbt. Unweigerlich kam mir Schneewittchen in den Sinn. Nur gab es hier kein Happy End. Julia würde nie mehr erwachen. Kein Prinz würde sie wachküssen.
Tränen brannten in meinen Augen. Julia war für immer aus meinem Leben verschwunden. Dabei hatte sie mich seit dem Kindergarten begleitet. Fast täglich waren wir zusammen gewesen, wurden von allen Zwillinge genannt, weil wir überall gemeinsam auftauchten, wir waren unzertrennlich gewesen.
Wir hatten uns alles anvertraut, unsere Geheimnisse und Sorgen. Wem, wenn nicht mir, hätte sie erzählt, wenn sie an Selbstmord gedacht hätte? Ich hätte es gemerkt. Ja, bestimmt. Ich war mir sicher, dass Julia sich nicht selbst umgebracht hat.
Mein Verstand schaltete sich ein. Wie hätte sie das hier auch tun sollen? Die Brücke war nicht hoch genug. Sie lag bloß drei Meter über dem Bachbett. Man konnte höchstens mit ein paar Knochenbrüchen rechnen. Würde sich also jemand mit Selbstmordabsichten ausgerechnet diesen Ort aussuchen? Kaum.
Und doch war Julia tot.
Schnee lag auf den Holzplanken, sie waren rutschig. Das Geländer reichte mir bis zur Hüfte. Sie konnte ausgerutscht sein. Ja, so musste es passiert sein. Sie war ausgerutscht, hinuntergefallen und hatte sich an einem der großen Steine den Kopf aufgeschlagen. Es war ein Unfall, ein blöder, blöder Unfall. Doch was hatte Julia mitten in der Nacht hier gewollt?
26. Januar 2012
Der Albtraum geht weiter. Ich habe die ganze Nacht kaum geschlafen. Mama macht sich Sorgen, das seh ich an der steilen Falte auf ihrer Stirn und daran, dass sie mir angeboten hat, heute von der Schule daheim zu bleiben. Am meisten macht ihr zu schaffen, dass ich nicht darüber reden will. Ich weiß, dass es mir helfen würde, wenn ich Worte für den Schrecken fände. Wenn ich diese Worte nicht nur finden, sondern auch aussprechen würde, nicht nur aufschreiben. Aber ich kann nicht. Zu viel Entsetzliches ist in meinen
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