Frostengel
zu mir um. »Ehrlich, ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Ich würde dir wirklich gerne helfen. Also, wenn du wen zum Reden brauchst …«
»Nein, also … vielleicht ein anderes Mal …« In dem Moment hörte ich die Glocke schrillen, die den Unterricht einläutete. »Mist! Sorry, hab den Müller in der ersten Stunde, muss los. Bis später, ja?« Ich sprintete los und drehte mich noch mal zu Leon um, der nur stumm die Hand hob.
Super! Ich musste noch zum Spind, meine Jacke einschließen und Bücher holen, und bis ich mit den Schulsachen im Klassenraum war, wäre der Müller schon da.
Ich hatte Glück. Ich flitzte gerade mit meinen Büchern durch die Klassentür, als mein Englischlehrer schnaufend die letzte Stufe zum ersten Stock, wo unser Klassenzimmer lag, erklomm.
»Good morning!«, dröhnte er gleich darauf mit sonorer Stimme. Viel mehr bekam ich von seiner Stunde nicht mit, weil ich mir darüber den Kopf zerbrach, wie ich Leon möglichst unauffällig dazu bekam, mit mir heute Nachmittag nach der Schule ins Grätzel zu gehen.
Ich überstand nach Müllers Englisch noch Geschichte, zwei Stunden Sport, bei denen ich auf der Bank saß und Menstruationsbeschwerden vortäuschte, und Biologie. Wenigstens war die letzte Stunde interessant und lenkte mich ein wenig ab, weil Steinmengers Unterricht immer total lässig ist.
Danach hatten wir Mittagspause. Schon mit Julia hatte ich die Mittagspausen nicht im Schulgebäude verbracht, die Cafeteria war grauenhaft – wenig Auswahl, ungesund und viel zu teuer. Stattdessen gingen wir meist in den nächsten Supermarkt und kauften uns was. Manchmal, wenn wir zwei Stunden freihatten, gingen wir zu Julia nach Hause. Ihre Mutter hatte dann immer etwas vorbereitet, was man aufwärmen konnte. Hin und wieder kochte ich für uns – wenigstens da hatte ich Julia gegenüber einen Vorteil. Sie konnte nämlich nicht mal die einfachsten Sachen zubereiten, ich schon. Tja, das hatte ich meiner völlig instabilen Mutter zu verdanken, die häufig zu besoffen war, um meine Schwester und mich zu versorgen, und daher musste ich was Essbares zaubern, wenn wir nicht verhungern wollten. Keine Medaille ohne zwei Seiten.
Ich würde nie wieder mit Julia zum Supermarkt gehen. Ich würde auch nie mehr bei den Mechats kochen. Hilflos lehnte ich mich an die Mauer des Schulgebäudes und versuchte, die Tränen runterzuschlucken. Nicht hier auf dem Schulhof heulen, vor allen anderen! Schon jetzt hatte ich den Eindruck, dass Claudia, die Obertusse und ihre Freundinnen, immer wieder zu mir rübersahen und über mich tuschelten. Doch ich hatte keine Kraft mehr, sollten sie doch denken, was sie wollten.
Da spürte ich, wie jemand mich leicht am Arm berührte. Ich wischte mir mit meinem Jackenärmel mein Gesicht ab und sah aus verquollenen Augen, dass Leon neben mir stand. Wortlos hielt er mir eine Packung Taschentücher hin.
»Danke«, sagte ich und meinte es ehrlich. Ich nahm ein Taschentuch aus der Verpackung und wollte ihm den Rest zurückgeben, doch er wehrte ab. »Behalt sie ruhig! Mein Angebot steht noch.« Ich sah ihn fragend an. Welches Angebot?
»Falls du wen zum Reden brauchst …«, beantwortete er mir meine unausgesprochene Frage.
Ich putzte mir meine Nase. »Schon okay. Ich komme klar.« Leon zuckte mit den Schultern. Dann ließ er mich stehen, während ich ihm nachsah, bis er aus meinem Blickfeld verschwand.
Ich ärgerte mich. Erreicht hatte ich gar nichts, außer dass alle mich beim Heulen gesehen hatten und ich Leon dankbar für die Taschentücher sein musste. Ausgerechnet ihm. Eigentlich ist er ganz nett, wagte ein ganz kleiner Teil meines Gehirns zuzugeben. Diesen Gedanken schob ich sofort ganz weit von mir. Das ist Leon . Der vielleicht sogar etwas mit Julias Tod zu tun hat! Grimmig warf ich die Taschentücher in den nächsten Mülleimer und ging ins Schulgebäude zurück. Um mich von meinem Vorhaben abzuhalten, bedurfte es mehr als ein paar Taschentücher. Leon, mach dich schon mal auf was gefasst!
Ausgerechnet die Taschentücher waren mein Vorwand, Leon nach der Schule im Grätzel anzusprechen. Ungefragt setzte ich mich an seinen Tisch und legte eine neue Packung vor ihn hin. Erst da sah er von seinem Buch auf. »Das wäre nicht notwendig gewesen.«
»Doch. Für mich schon. Ich mache nicht gern Schulden, auch wenn es bloß Taschentücher sind.« Ich deutete auf das Buch. »Was liest du da?« Leon seufzte. Er sah so aus, als wolle er sich lieber wieder in seine Lektüre
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