Frostengel
war. Ich sah mir alte Fotoalben an, trank Kaffee und schwindelte den beiden vor, ich hätte Melissa in Kleinhardstetten zufällig beim Arzt getroffen. Nun hätte ich von ihrem Tod erfahren und wollte persönlich mein Beileid aussprechen. Die beiden sahen sich überrascht an. Frau Schikol fragte: »Aber warum sollte Melissa nach Kleinhardstetten zum Arzt fahren? Wir haben doch hier in Tiezen einen. Zu dem ist sie ja sonst auch immer gegangen.« Sie hatten also keine Ahnung davon, dass Melissa bei meinem Vater gewesen war. Das bestätigte mein schlechtes Gefühl, was Melissa und meinen Vater anging, noch mehr. Genau die gleiche Frage habe ich mir auch schon gestellt. Aber weil ich darauf keine Antwort weiß, murmelte ich was von »persönlicher Sympathie« und dass Melissa wohl ihre Gründe dafür gehabt hatte.
Ich bin mir sicher, dass es ihnen guttat, über Melissa zu sprechen, und trotzdem kam ich mir so schäbig vor wie noch nie in meinem Leben. Die Schikols erzählten mir, Melissa sei eine Musterschülerin gewesen, es hätte keine großen Probleme mit ihr gegeben. Sie beschrieben ihre Tochter als sehr ernst. Auf meine Frage, ob sie denn einen Freund gehabt hätte, guckten sich die beiden an und zuckten nur ratlos die Schultern. Dann meinte Frau Schikol, Melissa sei in der Hinsicht eher zurückhaltend gewesen, hätte nie jemanden erwähnt. Wenn sie nicht mal von einem Freund wussten, hatte Melissa ihnen auch bestimmt nicht von ihrer Schwangerschaft erzählt. Ich fand es furchtbar traurig, dass die beiden erst von der Polizei davon erfahren mussten. Andererseits wunderte es mich nicht. Sie machten auf mich einen echt spießigen Eindruck. Bestimmt hatten sie von ihrer Tochter verlangt, als Jungfrau in die Ehe zu gehen. Sogar auf den Fotos sah Melissa wie eine Nonne in Zivil aus.
Immerhin konnten sie mir mit den Namen von Melissas wenigen Freundinnen weiterhelfen, die ich nach den Schikols besuchte.
Auch in der Schule fragte ich herum, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass keiner sie näher gekannt hat. Doch überall hieß es, Melissa sei eine kleine graue Maus gewesen, die sich nur für die Schule und für die Kirche interessierte, bei der sie ehrenamtlich gearbeitet hatte. Melissa, eine Heilige? Wohl eher ein gefallener Engel!
Gestern Nachmittag erzählte mir Mama, dass die Ermittlungen eingestellt werden, nachdem der Gerichtsmediziner als Todesursache »Erfrieren« festgestellt hat. Melissa hatte ihr Handy dabei. Sie hätte jederzeit Hilfe rufen können, doch das hatte sie nicht getan. Es gab auch sonst keine Anzeichen für eine Verletzung, die sie daran gehindert hätte, vom eiskalten Boden aufzustehen, keine Krankheit, die der Arzt feststellen konnte. Jetzt, wenn ich mir ihr Bild heraufbeschwöre, fällt mir auf, dass sie dagelegen war, als schliefe sie. Als hätte sie sich einfach in den Schnee gelegt wie in ein Bett – nur dass sie aus ihrem Schlaf nie wieder erwacht war.
Ein Unfall war es nicht, so viel steht fest. Im Grunde hat sie sich und ihr ungeborenes Kind getötet – so viel zu ihrer religiösen Haltung.
Gestern Abend sprach ich Papa auf Melissa an. Vorsichtig, versteht sich. Ehrlich, er zeigte nicht mal den Anflug eines schlechten Gewissens, als er meinte, er könne mit mir grundsätzlich nicht über seine Patienten sprechen. Also hab ich was Neues über meinen Vater erfahren: Er ist ein richtig guter Schauspieler! Später hörte ich, wie er zu meiner Mutter sagte, er sei erleichtert, dass ich nun anfing, über Melissa zu reden, das sei der erste Schritt, mein Trauma zu verarbeiten. Er klang etwas besorgt, aber auch ehrlich erleichtert. Wann hat er gelernt, sich so zu verstellen? Oder ist sein ganzes Leben mit Mama und mir eine einzige Lüge gewesen?
Ja, ich habe ein Trauma. Nicht, weil ich über eine Leiche gestolpert bin. Auch nicht, weil die Tote ein Mädchen war, das ich kannte – sondern, weil ich jemand viel Wichtigeren verloren habe: meinen Vater, dem ich vertraut hatte, bis er meine Mutter betrog. Eine Zeit lang, nach dem großen Streit zwischen ihm und meiner Mutter, sah es so aus, als wäre alles wie früher. Hatte er es wieder getan? War er ein Ehebrecher? Hatte sich Melissa seinetwegen das Leben genommen?
Wie gut ich plötzlich Tessa verstehe, die nicht mal den Namen ihres Vaters weiß. Und ich frage mich, ob sie es nicht sogar besser erwischt hat. Wenn man etwas nicht kennt, hat man auch keine Ahnung, was man versäumt. Ich fühle eine große Leere in mir. Egal wie die Sache
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