Frostengel
vertiefen, anstatt mit mir zu reden. Tja, Pech gehabt, so schnell würde er mich jetzt nicht mehr loswerden. Nach meinen missratenen Versuchen am Vormittag musste ich mich jetzt ranhalten.
»Du liest viel, nicht wahr?«, fragte ich weiter, ohne seine Antwort auf meine erste Frage abzuwarten. Innerlich schüttelte ich mich. Wenn ich mir selbst zuhörte, klang ich wie eine nervige, aufdringliche … wie Claudia halt klingt, wenn sie sich an einen Jungen ranmacht. Aber wenn’s sein musste, dann würde ich diese Rolle spielen. Hauptsache, ich drang irgendwie zu Leon durch.
»Ja, am liebsten Krimis und Thriller. Dan Brown, Mo Hayder, Stieg Larsson, Simon Beckett …«, sagte er und drehte das Buch in meine Richtung, damit ich das Cover sehen konnte.
»Ich seh mir Krimis lieber an. CSI ist meine Lieblingssendung.«
Irgendein gescheiter Mensch hatte mal gesagt, wenn man seine Feinde nicht besiegen kann, solle man sich mit ihnen verbünden. Genau das würde ich tun. Ich würde mich mit Leon anfreunden. Irgendwann würde er mir vertrauen und dann würde ich erfahren, was ich von ihm wissen wollte. Den schalen Geschmack, der sich in meinem Mund auszubreiten drohte, spülte ich mit der Cola weg, die ich für mich und für Leon als Dankeschön für die Taschentücher bestellt hatte.
Ich gab mir einen Ruck, mit der Smalltalkmasche würde ich nicht weit kommen. Leon hatte mir ja angeboten, dass wir reden könnten. Gut, dann würden wir eben reden.
»Dir ist Julias Tod auch nicht egal, oder? Ich hatte den Eindruck, du magst sie«, fing ich an. Leon stellte sein Glas auf den Tisch und sah mich an. Mir fiel auf, dass er bernsteinfarbene Sprenkel in den ansonsten fast haselnussbraunen Augen hatte.
»Natürlich lässt mich ihr Tod nicht kalt und ja, sie war eine Freundin. Nicht so, wie du vielleicht denkst. Es ist … ich glaube, der Tod Melissas hat uns irgendwie miteinander verbunden.«
»Wie kam es überhaupt dazu, dass du gerade am Fundort warst? Ist doch ein riesengroßer Zufall gewesen.«
Leon seufzte. »Wahrscheinlich glaubst du mir eh nicht. Aber es war wirklich Zufall. Mein Bein tat weh. Da hilft Bewegung am besten, also ging ich raus, die Felder entlang. Es schneite wie verrückt, sodass man kaum was sehen konnte. Plötzlich rennt mich Julia fast um.« Leons Blick war nach innen gerichtet, als würde er alles noch einmal erleben.
»Sie war total aufgelöst. Ich musste sie erst mal beruhigen, damit ich überhaupt verstand, was los war. Ich habe dann die Polizei und später ihre Mutter angerufen. Weil sie sich nicht traute, noch einmal zu der Leiche zurückzugehen, um den Beamten den genauen Fundort zu zeigen, hab ich sie begleitet und danach hab ich auf Frau Mechat gewartet, weil ich Julia doch nicht mit zwei Fremden allein lassen konnte.«
Leon, der Ritter auf dem weißen Ross, dass ich nicht lachte! Ich nahm ihm die Geschichte nicht ab. Zumindest nicht, dass er zufällig dort gewesen war.
»Und seitdem wart ihr so was wie Freunde«, beendete ich seine Erzählung.
»Ja. So ein Erlebnis schweißt einen zusammen.«
»Dann hat sie dir vielleicht auch von ihren Ängsten erzählt? Davon, dass sie sich beobachtet fühlte?«
Beobachtet von dir, fügte ich in Gedanken hinzu.
Leon nickte. »Dass sie Angst hatte, das hat man ihr ja angemerkt. Nur wovor, wollte sie nicht sagen.« Leon nahm einen Schluck von seiner Cola und sah mich an. »Du hast mir vorgeworfen, dass ich Julia verfolgt hätte. Das stimmt nicht. Nicht so. Ich habe nur auf sie aufgepasst. Man weiß ja nie. Und ich fühlte mich irgendwie verantwortlich für sie, seit … na ja, du weißt schon.«
Ich hatte also recht gehabt! Auch wenn er mir weismachen wollte, dass er gute Gründe dafür hatte. Pah! Als ob das was ändern würde!
»Aber es hat nichts geholfen, nicht wahr? Sie ist trotzdem tot«, sagte ich.
Leons Stimme klang belegt, als er sagte. »Ja. Sie ist tot. Und das werde ich mir nie verzeihen.«
1. Februar 2012
In den letzten Tagen habe ich mich mit einigen Leuten unterhalten, die Melissa kannten. Ich fand, das sei der beste Weg, etwas über sie herauszufinden. Dafür bin ich extra mit der Bahn nach Tiezen zu Melissa nach Hause gefahren, obwohl es eine große Überwindung für mich war. Es fällt mir seit dem Tag schwer, Dinge allein zu tun. Was wäre, wenn ich wieder eine Angstattacke hätte? Wenn dann niemand da ist, der mich beruhigt, so wie Tessa?
Bei Melissas Eltern gab ich mich als ehemalige Schulkameradin aus, was ja nicht mal gelogen
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