Frostengel
wuchernden Stauden und das hohe Gras. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, warum Julia ausgerechnet dieses Bild in den Dateiordner abgelegt hatte, auf dem mein Name stand.
Noch einmal blätterte ich die Fotos durch und legte sie nebeneinander auf den Tisch. Aus einem Augenwinkel bemerkte ich, dass meine Mutter sich wieder in ihr Buch vertieft hatte. Und plötzlich fiel es mir auf. Ich schnappte nach Luft und fragte mich, wie ich so blind hatte sein können. Die Aufnahmen waren Erinnerungen an unsere Kindheit – und an unser Baumhaus, unseren Schlupfwinkel. Was wollte Julia mir damit sagen?
Das würde sich leicht herausfinden lassen. Abrupt stand ich auf und raffte die Fotos zusammen. »Ich muss noch mal weg«, sagte ich. Meine Mutter hob nicht mal den Kopf von ihrer Lektüre. »Ist gut.«
Ich rannte die Stufen hinunter. Endlich hatte ich das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Irgendetwas würde ich finden, davon war ich überzeugt. Irgendetwas, das mir sagte, was Julia vorgehabt hatte, als sie in der Nacht zu der Brücke gegangen war. Irgendetwas, das sie die Wochen nach Melissas Tod mit sich herumgeschleppt, wovon sie selbst mir nichts erzählen wollte. Obwohl mir vom Laufen warm geworden war, kroch Gänsehaut über meinen Rücken. Ich wickelte den Schal enger um meinen Hals. Julia hatte normalerweise vor ihren Eltern keine Geheimnisse gehabt – und vor mir auch nicht. Wenn sie tatsächlich eines gehabt hat, musste es sich dann nicht um etwas Schreckliches handeln? In mir sträubte sich alles, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Was erwartete mich, wenn ich herausfand, was mir Julia nie erzählt hatte, als sie noch lebte?
20. Februar 2012
Puh, das erste Wochenende der Ferien habe ich hinter mich gebracht. Mehr oder weniger gut. Ich fühle mich heute fast wie ein Mensch, nicht so zombiemäßig wie in letzter Zeit, was daran liegt, dass ich länger schlafen konnte. Wenn man wochenlang nicht mehr als drei, vier Stunden an einem Stück durchschläft, kommen einem sechs, sieben Stunden Schlaf wie Luxus vor. Jedenfalls habe ich das erste Mal seit Langem das Gefühl, nicht schon in der Früh wie ferngesteuert zu sein. Außerdem war keiner da, als ich aufgestanden bin. Sie sind in irgendein Möbelhaus gefahren. Mamas Büro soll renoviert werden. Sie wollten mich nicht wecken, stand auf dem Zettel, den sie mir auf den Küchentisch gelegt hatten.
Gleich nach dem Frühstück – gut, es war wohl mehr ein Brunch, immerhin war es fast elf – rief ich Tessa an. Wir machten aus, dass wir uns gegen sechs im Grätzel treffen. Jetzt bin ich noch schnell im Baumhaus und schreibe. Ich überlege, ob ich vorher noch mal heimgehen und mich in die Badewanne legen soll. Im Moment fühlt sich mein Hintern an, als wäre er eingefroren. Deshalb fasse ich mich kurz. Diesen Nachmittag hatte ich ein wenig länger Zeit, um das Arbeitszimmer meines Vaters zu durchsuchen. Gefunden habe ich nichts. Weder etwas, was auf seine Schuld deutet, noch etwas, was ihn entlastet. Aber ich habe in einer Schublade, unter ziemlich viel Papierkram, die Ersatzschlüssel für die Praxis entdeckt. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass er sie überhaupt noch hat. Ich dachte mir, ich könnte sie nachmachen lassen, aber im Grunde reicht es, wenn ich sie später wieder zurücklege. Es wird ihm mit Sicherheit nicht auffallen, dass sie weg sind.
Das ist also mein Plan für morgen: Ich werde in den Praxisräumen meines Vaters herumschnüffeln. Wenn was dort ist, finde ich es. Wo sonst, wenn nicht dort, wo er keine Angst haben muss, dass ich oder Mama auf einen Hinweis stoßen und wo sie sich ja immerhin auch mal getroffen haben. Ich werde behaupten, ich würde den Tag bei Theresa verbringen oder noch besser mit ihr. Irgendein Ausflug. Ich könnte sagen, wir fahren nach Graz zum Shoppen, dann vermisst mich zu Hause keiner. Nur muss ich Tessa einweihen, damit sie sich nicht verplappert. In Kleinhardstetten trifft man immer wen, der wieder wen trifft – und ehe man es sich versieht, weiß A von B, dass C nicht in der Schule war, weil D erzählt hat … so läuft es hier bei uns.
So, aber jetzt schnell nach Hause und einen Tee und ein heißes Bad. … Ich kling schon wie meine Mutter!
Kapitel 15
Der Weg zu dem verwilderten Gartengrundstück mit dem Baumhaus erschien mir kürzer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Einen Moment blieb ich vor dem windschiefen Zaun stehen und ließ das Gelände auf mich wirken. Obwohl es letzte Woche viel
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