Frostengel
aufsetzen musste.
Einige Bücher waren auch da. Gespenstergeschichten, die Julia und ich uns gegenseitig vorgelesen hatten. Aber das, was mich am meisten interessierte, war das Buch, das darunter lag. Julias Tagebuch. Ich hatte es gefunden! Und ganz unten in der Kiste war Julias Camcorder. Tief vergraben, als hätte sie ihn aus ihrem Leben aussperren wollen.
Ich lag in meinem Bett, Julias Aufzeichnungen neben mir. Endlich würde ich erfahren, warum Julia in letzter Zeit so verschwiegen gewesen war. Was sie bewegt hatte. Was sie mir nicht erzählt hatte.
Zuerst hatte ich überlegt, das Tagebuch sofort an Ort und Stelle zu lesen. Doch ich hätte mich wahrscheinlich gleich wieder erkältet und nun war ich froh, zu Hause auf meinem Bett zu liegen. Meine Mutter hatte mir eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen, dass sie sich mit Klaus zum Abendessen traf. Corinna schlief bei einer Freundin, was mir nur recht sein konnte. So hatte ich Ruhe und Zeit für mich. Und für Julia.
Ich hatte mir einen Tee gemacht, war unter die Dusche gegangen – alles nur, um die Vorfreude auf meine Lektüre ein wenig auszudehnen. Julias Tagebuch war wie ein Schatz, etwas, das sie mir hinterlassen hatte. Mir ganz allein. Ich hatte zwar keine Ahnung, warum sie nicht wollte, dass ich es in ihrem Zimmer fand, aber ich war davon überzeugt, dass ich den Grund bald herausfinden würde.
Julia verwendete keine klassischen Tagebücher, es waren diese handgebundenen, wunderschön gearbeiteten Notizbücher. Das hier war ein grünes mit roten, gestickten Blumen auf dem Umschlag. Gespannt schlug ich es auf.
Der erste Eintrag trug das Datum vom 15. September. Sie hatte es kurz nach Schulbeginn begonnen.
Sie beschrieb die Schüler in unserem Jahrgang und meckerte über unseren Mathelehrer. Ich musste schmunzeln, als ich die Zeilen las. Ich blätterte weiter. Julia war in ihren Eintragungen nicht sehr konsequent gewesen. Manchmal hatte sie mehrere Tage nichts geschrieben. Aber sie fasste dann alle Erlebnisse kurz zusammen, sodass ich trotz der Lücken das Gefühl hatte, mir würden keine wesentlichen Informationen fehlen.
In jedem Wort fand ich Julia wieder. Mir war, als würde sie neben mir sitzen und zu mir sprechen.
Am 17. Oktober hatten wir gestritten. Auch das stand da. Sofort sah ich die Situation vor mir. Im Nachhinein kam es mir banal vor, aber ich hatte mich über sie geärgert, weil sie mich an diesem Tag bei mir zu Hause in einem total bescheuerten Moment fotografiert hatte. Ein Wort ergab das andere, ich nahm die Speicherkarte aus dem Gerät und versenkte sie im Klo. Das war’s. Zwei Tage sprach sie nicht mit mir.
Am 19. Oktober versöhnten wir uns wieder. Auch daran erinnerte ich mich noch gut. Wir griffen beide gleichzeitig nach dem Radiergummi auf dem Tisch, sahen uns an und prusteten los. Gott sei Dank läutete die Pausenklingel im gleichen Moment, sonst hätte der Müller uns rausgeworfen.
Ich hatte Julia angeboten, eine neue Speicherkarte zu kaufen, doch sie hatte abgewinkt und gemeint, es seien sowieso keine wichtigen Fotos drauf gewesen. Ich hatte ihr natürlich trotzdem eine neue besorgt.
Weihnachten: Julia hatte den Camcorder bekommen. Sie schrieb, dass damit ein großer Traum für sie in Erfüllung gegangen war. Seither war sie kaum ohne das Gerät unterwegs gewesen. Nach den Weihnachtsferien hatte sie dann der Meinhardt ihren Projektvorschlag unterbreitet. Sie wollte ein Wintermärchen mit der Kamera erzählen. Ich durfte es nicht sehen, keine einzige Sequenz. Sie wollte mir ihre Arbeit zeigen, wenn sie ganz fertig war. Sie hatte ihr Projekt nie abgeschlossen. Ich bekam einen Kloß im Hals, Tränen stiegen in meine Augen.
Ich war ganz in Julias Welt gefangen. Ich hörte kaum die Wohnungstür. Meine Mutter war daheim, sie lachte und sprach mit jemandem, also nahm ich an, dass Klaus mitgekommen war. Wenn ich höflich gewesen wäre, hätte ich aufstehen und ihn begrüßen müssen. Aber ich wollte nicht höflich sein, ich wollte Julias Eintragungen weiterlesen. Also tat ich so, als sei ich nicht da.
Kurze Zeit später klopfte es. Schnell wischte ich mir mit dem Ärmel über die Augen, da steckte meine Mutter schon den Kopf zur Tür herein. »Oh, du lernst«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht stören, aber wir gehen noch ins Kino. Vielleicht möchtest du ja mit?«
Ich sah kurz auf und schüttelte bloß den Kopf. »Nein, danke. Geht nur und habt viel Spaß!« Alles, was recht war, aber keine zehn Pferde hätten mich
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