Frostengel
…«
Ich gab einen Knurrlaut von mir.
»Ich wollte bloß fragen, wie es dir geht.«
»Es geht schon. Es gab bessere Tage. Ich werde es überstehen. … Leon? Kann ich dich was fragen?«
»Hm?«
»Es wird Gerede geben. Ich mein, wenn die anderen uns zusammen sehen.« Mir machte es nichts aus. Ich war es gewohnt, dass über mich geredet wurde, das heißt, eher über meine Mutter. Nur wie Leon dazu stand, wusste ich nicht. Wie so vieles, das ich noch nicht über ihn wusste.
»Das bleibt nicht aus. Möchtest du es lieber geheim halten?«
Ich dachte an unser gestriges Gespräch. Leon hatte seine Beziehung zu Melissa mehr oder weniger geheim halten müssen. Das wollte ich ihm kein zweites Mal antun.
»Nein«, sagte ich entschlossen. »Keine Heimlichkeiten. Es dürfen ruhig alle wissen, dass wir zusammen sind. Wir müssen ja nicht gleich am Schulhof rumknutschen. Das würde den Lehrern wohl auch nicht gefallen.«
»Kein Geknutsche am Schulhof? Jetzt bin ich aber enttäuscht«, antwortete Leon. Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.
»Dann bis später, ja? Ich muss mich noch für die Beerdigung fertig machen.« Seine Stimme zu hören machte mich zwar froh. Aber ausgerechnet heute kam es mir falsch vor, glücklich zu sein.
Als ich aus meinem Zimmer kam, stand meine Mutter im Bad und fönte sich die Haare. Ihre schlanke Gestalt war ganz in Schwarz gekleidet und sie sah richtig hübsch aus. Von hinten hätte man sie für sechzehn halten können.
Sie drehte sich zu mir um, als sie mich in der Tür bemerkte. »Ich bin gleich fertig. Du solltest dich beeilen, der Bus geht in dreißig Minuten.«
»Ich weiß. Keine Sorge, das schaffe ich locker.«
»Dieser Leon, er ist nett.«
»Ja, das ist er.«
»Seid ihr …?«
Ich lehnte mich an den Türrahmen. »Ja, wir sind.« Ein Grinsen breitete sich über meinem Gesicht aus.
»Liebes, ich freue mich so für dich. Und ich geb dir einen Rat: Genieße das Hier und Jetzt.«
Mir lag schon eine patzige Entgegnung auf der Zunge. Genau das war es, was ich nicht wollte. Ich wollte nicht so sein wie sie. Nur im Hier und Jetzt leben, nicht über Konsequenzen nachdenken. Sie hatte ja zur Genüge demonstriert, wie es ausgehen konnte, wenn man nicht ein paar Schritte weiterdachte. Doch ich sagte nichts. Es hätte eine endlose Diskussion gegeben, wahrscheinlich sogar Streit. Und dafür war jetzt keine Zeit. Und auch nicht der richtige Tag.
Wir erwischten den Bus gerade so. Meine Mutter konnte sich nämlich nicht entscheiden, ob sie Stiefel oder Schuhe anziehen sollte.
Etliche Leute saßen schon drinnen, als wir zustiegen. Anhand ihrer dunklen Kleidung war es nicht schwer zu erraten, dass die meisten von ihnen ebenfalls zu Julias Beisetzung fuhren. Ich fragte mich, warum. Dass ihre Eltern, enge Verwandte, Freunde, Mitschüler sich von ihr verabschieden wollten, sah ich ein, aber all die anderen? Taten sie es aus Neugier? Langeweile? Oder weil Julias Eltern angesehen waren?
Vor dem Friedhofstor warteten etliche Schüler unserer Stufe und Herr Wennecker. Unser Stufenleiter hatte tatsächlich einen Riesenbund weiße Rosen in der Hand.
»Ich geh schon mal rein«, flüsterte meine Mutter, während ich mich zu den anderen gesellte und Ausschau nach Leon hielt. Ich sah auf mein Handy. Noch eine Viertelstunde bis zehn.
Nach und nach trudelten die restlichen meiner Mitschüler ein, nur von Leon war nichts zu sehen. Ich wurde nervös und überprüfte noch einmal die Uhrzeit. Bloß fünf Minuten noch. Hoffentlich würde er auftauchen. Mit ihm an meiner Seite würde ich mich viel sicherer fühlen.
Natürlich kam er. Natürlich ließ er mich nicht im Stich. Leon trug einen Anzug, darüber einen Mantel, den er offen gelassen hatte. Sogar eine Krawatte hatte er umgebunden. Damit sah er total anders aus. Sehr erwachsen, seriös. Aber auch andere Jungs unseres Jahrgangs waren im Anzug erschienen, sogar Jan, den ich bisher nur mit zerrissenen Jeans und T-Shirt oder Rollkragenpulli kannte, hatte sich in Stoffhose und Jackett gequält. Ich konnte mir Leon sehr gut als Banker oder Anwalt vorstellen – oder in irgendeinem anderen Beruf, bei dem man Anzüge tragen musste. Dabei hatte er ganz andere Vorstellungen von seinem Leben. Schade eigentlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Psychologen Anzüge trugen. Mein Herz schlug einen Takt schneller, als er mir ein kleines Lächeln schenkte. Leon stand nun vor mir und umarmte mich anstelle eines Kusses. Dann nahm er meine Hand. Claudia sprangen
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