Frostengel
fast die Augen raus. Sie stieß Jennifer und Sandra an, die neben ihr standen, und flüsterte mit ihnen. Jennifer schaute zu Leon und mir, fing meinen Blick auf und lächelte uns zu. Sandra winkte herüber und sagte etwas zu Claudia. Ich konnte wegen der Entfernung nicht verstehen, was, aber Claudia ließ die beiden stehen und stellte sich zu einer anderen Gruppe Mitschüler, denen sie brühwarm die Neuigkeit über Leon und mich erzählen konnte. Na ja, es würde wohl nur ein paar Minuten dauern, bis alle wussten, dass wir jetzt ein Paar waren. Claudia würde schon dafür sorgen.
Seite an Seite gingen wir nun zu Wennecker rüber, der jedem von uns eine weiße Rose in die Hand drückte. Ich schnupperte an der Blüte. Sie roch nach nichts.
Geschlossen traten wir durch das Friedhofstor und gingen zur Aufbahrungshalle. Julias Eltern und die engsten Verwandten waren schon drinnen. Frau Mechat hatte geweint, das sah man an ihren geröteten Augen, aber nun hielt sie sich tapfer, als wolle sie vor all den Leuten ihren Gefühlen nicht freien Lauf lassen. Herr Mechat erblickte mich und nickte mir zu. Sein Gesicht schien erstarrt zu sein. Keine einzige Regung konnte man an ihm ablesen.
In der Menge entdeckte ich Karin Zauner, die Polizistin, die ebenfalls gekommen war.
Der Saal füllte sich schnell. Nicht nur unsere Stufe, sondern auch viele andere Schüler waren gekommen. Unglaublich, wie viele Menschen Julias Tod berührte. Irgendwo, weiter hinten, sah ich meine Mutter, die sich mit jemandem unterhielt. Einen Augenblick später schob sich jemand vor sie und ich konzentrierte mich auf die Worte des Pfarrers, die gleichermaßen einstudiert wie austauschbar waren. Wie hätte er denn auch wissen sollen, was Julia ausgemacht hatte? Welche Träume und Wünsche sie gehabt hatte? Trotzdem schienen die anderen Trauergäste es nicht so zu empfinden, denn einige von ihnen weinten oder schluchzten leise.
Danach kamen die Sargträger und hoben den Sarg auf einen Wagen. Die Kränze und Gestecke wurden auf einen eigenen Handwagen geladen. So marschierten wir zum ausgehobenen Grab. Mit einem Flaschenzug wurde der Sarg langsam hinuntergelassen. Julias Eltern warfen als Erste mit einer Schaufel Erde auf den Sarg, danach die anderen Trauernden. In einer endlosen Kolonne schoben sich die Gäste an dem offenen Grab vorbei, Erde oder Blumen fielen auf Julias Sarg. Nur langsam bewegte sich die Menge vorwärts und ich ließ meinen Blick schweifen. Leon hielt noch immer meine Hand. Da sah ich hinter einem Grabstein etwas aufblitzen. Schon wieder. Es war nicht das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, jemand würde mich beobachten. Immer wieder hatte ich es als Hirngespinst oder als Lichtreflexion abgetan. Aber sollte ich meinem Gefühl nicht endlich trauen?
Vielleicht machte mich Leon an meiner Seite mutig. Entschlossen löste ich mich aus der Gruppe und murmelte Leon zu, ich sei gleich wieder da.
Ich bahnte mir den Weg durch die Trauergäste, was mir einige empörte Blicke einbrachte, aber das war mir egal.
Nur noch wenige Meter bis zum Grabstein, hinter dem ich meinen Beobachter vermutete. Mit einem großen letzten Schritt war ich auf der Rückseite des Marmorsteines. Verblüfft starrte ich den Mann an, der sich mit einer Kamera in der Hand dort versteckt hielt.
Ich wusste nicht, wen oder was ich erwartet hatte, aber die Überraschung verschlug mir mit einem Mal die Sprache.
Unmittelbar hinter mir hörte ich Leons Stimme. »Wer zum Teufel …?« In der Hand hielt er immer noch die weiße Rose, als er neben mir zum Stehen kam.
»Die Frage ist weniger wer, sondern was zum Teufel er hier macht«, warf ich ein.
»Kennst du ihn etwa?«
»Ja. Darf ich vorstellen? Das ist Klaus, Mamas neuer Freund.«
»Sind Sie ein Spanner, oder was?«, wollte Leon wissen. Er dachte nicht einmal daran, leise zu sein.
Klaus hob abwehrend die Hände. »Nein, nein. Das bestimmt nicht.«
»Was dann?« Leons Stimme hatte einen drohenden Unterton. Mittlerweile waren die anderen Trauergäste auf uns aufmerksam geworden. Ausgerechnet meine Mutter hatte mich entdeckt und kam zu uns herüber.
Mit hochgehobenen Brauen und offenem Mund blickte sie uns an. »Klaus?«
Erst jetzt bemerkte ich, dass Leon Klaus am Arm gepackt hatte. »Also. Ich höre. Warum verstecken Sie sich hier und was wollten Sie mit der Kamera?«
Klaus’ Blick wanderte von einem zum anderen und sagte dann mit zu Boden gerichtetem Blick. »Ich bin Reporter«, sagte er schließlich.
Immer noch
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