Frostglut

lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, aber ich packte das Buch fester und tauchte tiefer in die Erinnerungen ein. Ich musste herausfinden, was so wichtig an dem Buch war, dass die Schnitter es sogar gewagt hatten, in die Bibliothek der Altertümer einzubrechen, nur um das Exemplar dort zu stehlen …
    Und Vivians Gesicht stieg in mir auf.
    Sofort packte ich das Bild, stellte es so scharf wie möglich und ließ mich in die Erinnerung fallen.
    Vivian stand in der Bibliothek des Kolosseums. Sie sah sich um, und ihr goldener Blick huschte von einer der Ecken des Raums in die andere, als rechnete sie mit Ärger. Die Lichter der Bibliothek waren gedimmt, und durch die Glasdecke konnte man statt der Sonne funkelnde Sterne erkennen. Das Schnittermädchen musste nachts ins Kolosseum eingebrochen sein.
    Schließlich, als sie sicher war, dass niemand kam, drehte Vivian den Kopf – und ich erkannte, dass sich noch jemand in der Bibliothek befand. Diese Person trug eine schwarze Robe. Die Kapuze hatte sie über den Kopf gezogen, und die Person wandte Vivian den Rücken zu, also konnte ich nicht erkennen, wer es war. Irgendwoher wusste ich allerdings, dass es der Schnitter war, den ich in der Bibliothek gejagt hatte – obwohl ich eigentlich nur zwei Hände in schwarzen Handschuhen erkennen konnte, die ein Buch umklammerten … dasselbe Große Transformationen -Buch, das ich im Moment in den Händen hielt.
    »Das ist nutzlos«, sagte der Schnitter. Seine Stimme klang irgendwie höher als bei unserer ersten Begegnung. Er klappte das Buch zu und hielt es in Vivians Richtung. »Das, was wir brauchen, steht hier nicht drin. Das Pantheon muss entschieden haben, dass die Informationen zu gefährlich sind. Deswegen wurden sie aus dieser Ausgabe getilgt.«
    »Bist du sicher?« Vivian packte das Buch und blätterte darin herum. »Die anderen waren davon überzeugt, dass das hier das richtige Buch ist.«
    Der Schnitter schüttelte den Kopf. »Dieser Band enthält nur einen Teil der Informationen. Wir brauchen die Liste der Juwelen und das gesamte Ritual von Anfang bis Ende, um Lokis Seele in den Körper zu überführen, den wir ausgesucht haben. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass wir uns hier nicht den kleinsten Fehler erlauben dürfen. Wir haben nur einen Versuch, und wir müssen sicherstellen, dass wir erfolgreich sind, oder all die Jahre des Wartens werden umsonst gewesen sein und die Verfassung unseres Herrn wird sich noch verschlechtern. Wir müssen uns doch die Originalausgabe holen.«
    »Und wo befindet sich die?«, fragte Vivian.
    »In der Bibliothek der Altertümer«, antwortete der Schnitter.
    Vivian blinzelte. Anscheinend überraschte sie diese Info. Nach einem Moment schüttelte sie den Kopf. »Du schaffst es auf keinen Fall, auf das Gelände vorzudringen, und noch weniger kommst du in die Bibliothek. Nicht jetzt, da sie so viele zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen haben.«
    »Die Möglichkeit, dass wir die Originalausgabe brauchen, bestand immer, und wir haben dementsprechend geplant. Da kommst du ins Spiel«, antwortete der Schnitter. »Du gehst wieder zur Schule.«
    Vivian verdrehte die Augen. »Muss ich? Ich habe schon genug Zeit auf dieser dämlichen Akademie verschwendet.«
    »Oh, ich glaube, diesmal wird es dir viel besser gefallen. Besonders da dir die Chance geboten wird, deiner lieben Freundin Gwen Frost das Leben zur Hölle zu machen. Wenn wir mit ihr fertig sind, wird das Protektorat höchstselbst entscheiden, sie hinzurichten und damit deinen Job für dich zu erledigen. Du musst nur zurückgehen und ihr beim Leiden zusehen.«
    Ein breites Lächeln erschien auf Vivians Gesicht, und für einen Moment blitzten ihre goldenen Augen schnitterrot. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
    »Komm«, sagte der Schnitter und ging zur Tür. Er wandte Vivian immer noch den Rücken zu. »Lass uns von hier verschwinden, bevor uns jemand entdeckt.«
    Das Bild der Bibliothek verblasste, sodass ich wusste, dass diese Erinnerung bald enden würde. Trotzdem hielt ich das Buch fest und versuchte auch noch die letzte Information herauszuziehen – wie zum Beispiel die wahre Identität des Schnitters in der Robe.
    Komm schon , dachte ich. Dreh dich um und zeig mir dein Gesicht.
    Mein Herz verkrampfte sich, als der Schnitter sich der Bibliothekstür näherte. Gleich würde der bösartige Krieger verschwinden – und damit auch jede Chance, seine Identität aufzudecken.
    Vivian stellte das Buch zurück ins Regal,