Frostglut
aber sie hatte es eilig und schob es nicht weit genug nach hinten. Das Buch fiel zu Boden. Das Geräusch hallte wie Donner durch die stille Bibliothek. Vivian verzog das Gesicht, beugte sich vor und hob das Buch auf.
Der Schnitter wirbelte herum, und in diesem Moment erkannte ich, dass er gar kein Mann war, sondern eine Frau. Sie trug keine Maske, und endlich sah ich ihr Gesicht – ihr wunderschönes, bekanntes Gesicht. Sie kniff die grünen Augen zusammen und starrte Vivian böse an.
»Ruhe!«, zischte Agrona Quinn dem Mädchen zu. »Willst du, dass die Wachen uns …?«
Ich war so überrascht, dass der Rest der Erinnerung sich verflüchtigte, obwohl ich immer noch glaubte, Agronas böse, an Vivian gerichtete Worte zu hören. Doch nach einem Moment verschwanden auch sie.
Ich holte zitternd Luft, öffnete die Augen und schaute auf das Buch hinunter. Der Ledereinband schien mir die Finger zu verbrennen, aber ich wusste, das lag nur daran, dass ich so schockiert war.
Logans Stiefmutter war in Wahrheit ein Schnitter des Chaos? Ich wollte es nicht glauben. Sie hatte so ruhig, so nett gewirkt, war so gut zu dem Spartaner gewesen und hatte zwischen Linus und ihm vermittelt, wann immer die beiden sich stritten. Es würde Logan sehr verletzen, wenn er erfuhr, dass sie ihn und seinen Dad die ganze Zeit angelogen hatte.
Dann fiel mir etwas anderes ein. Vielleicht … vielleicht hatte Vivian etwas mit dem Buch angestellt und falsche Erinnerungen darin eingepflanzt. Das hatte sie schon früher getan, um zu verhindern, dass ich herausfand, dass sie in Wirklichkeit Lokis Champion war. Vivians Telepathie ermöglichte ihr so etwas, erlaubte es ihr, Leute Dinge sehen und fühlen zu lassen, die es in Wirklichkeit gar nicht gab – sogar mich. Zum ersten Mal hoffte ich, dass das Schnittermädchen im Moment ein Spiel mit mir trieb.
Wieder griff ich nach meiner Psychometrie, betrachtete erneut all die Bilder und Erinnerungen, aber ich sah exakt dasselbe wie vorher. Vivian und Agrona, die sich über das Buch unterhielten und darüber, einen neuen Körper für Loki zu finden. Die Erinnerungen waren alle scharf und deutlich, und ich hatte nicht das Gefühl, dass jemand sie manipuliert hatte. Als ich Vivians mit geänderten Erinnerungen aufgeladenen Janusring berührt hatte, hatten sich die Erinnerungen ein wenig falsch angefühlt. Aber solche Schwingungen strahlte das Buch nicht aus – nicht im Mindesten. Nein, die mit diesem Band verbundenen Erinnerungen waren echt.
Ich hatte mich innerlich darauf vorbereitet, Inaris Gesicht zu sehen oder Sergeis oder sogar das von Linus. Schließlich hatte ich den Schnitter wegen der tiefen Stimme in der Bibliothek für einen Mann gehalten. Aber Agrona musste einen Weg gefunden haben, ihre Stimme zu tarnen. Aber wie? Wie hatte sie das angestellt?
In diesem Moment fiel mir ihre Goldkette ein, diejenige, mit der sie ständig herumgespielt hatte – die Kette mit zwei Rubinen und zwei Smaragden.
… die Smaragde haben eine hypnotisierende Wirkung, während der Topas Halluzinationen verursacht. Auf jeden Fall sollen die Rubine am mächtigsten sein und mehrere magische Fähigkeiten besitzen – von der Macht, andere zu täuschen, bis hin zu der Fähigkeit, den Willen einer Person zu überwältigen und sie dazu zu zwingen, gegen ihren freien Willen zu handeln …
Das hatte über Apates Schmuck auf der Karte gestanden, und ich hätte gewettet, dass es nur zu einfach war, mithilfe der Edelsteine seine Stimme zu verändern. Ich runzelte die Stirn. Ich hatte Agrona mit der Kette gesehen, bevor die Juwelen gestohlen worden waren. Gab es dort draußen noch mehr Edelsteine mit magischen Fähigkeiten? Ich wusste es nicht, aber eigentlich war es im Moment auch nicht wichtig.
Denn es stellte eine Tatsache dar, dass Agrona Quinn ein Schnitter war – und das bedeutete, dass Logan und der Rest meiner Freunde in echten Schwierigkeiten steckten.
»Und?«, fragte Alexei. »Was hast du gesehen?«
»Genau, Gwen«, schaltete Morgan sich ein. »Spuck’s aus.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts Gutes. Ich glaube … ich glaube, die Schnitter planen irgendein Ritual, mit dem sie irgendwie Lokis Seele in einen neuen Körper überführen wollen. Ist das überhaupt möglich?«
Bei meinen Worten verfinsterte sich Alexeis Miene. »Ich habe von meinem Vater und den anderen Protektoratsmitgliedern Geschichten darüber gehört. Aber ich dachte, sie wären ebendas – Geschichten. Meinem Vater ging es genauso. Die
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