Frostherz: Mythos Academy 3 (German Edition)
ich das Schicksal anderer Leute nicht herumerzähle. Schweigepflicht und so.«
Schweigepflicht? Grandma war eine Wahrsagerin, keine Rechtsanwältin. Sie erzählte mir fast immer von ihren Visionen – außer sie hatten etwas mit mir zu tun. Es belastete Grandma, Visionen über Familienmitglieder und Freunde zu empfangen, denn je näher sie einer Person stand, desto mehr beeinflussten ihre Gefühle die Bilder, die sie sah. Wenn sie einen Blick auf meine Zukunft erhaschte, erzählte sie mir selten davon. Grandma sagte immer, sie wolle, dass ich meine eigenen Entscheidungen traf und meinen eigenen Weg wählte, statt mich auf ein Ereignis in der Zukunft zu verlassen, das vielleicht nie eintrat. Trotzdem sorgte die harte Linie um ihren Mund dafür, dass ich mich fragte, was genau sie gesehen hatte – und wie schrecklich es gewesen war.
Logan starrte meine Grandma mit einem wachsamen, fast verletzten Ausdruck an, als hätte sie gerade sein dunkelstes Geheimnis in die Welt hinausgeschrien. Ich fragte mich, ob Grandma wohl gesehen hatte, was ich gesehen hatte, als ich Logan vor ein paar Wochen berührt hatte – den jungen Spartaner, der über den Leichen einer Frau und eines Mädchens stand. Ich hatte mich bei unserem Kuss auf seine Kampffähigkeiten konzentriert, aber dieses Bild hatte ich trotzdem aufgefangen. Ich fragte mich, ob Grandmas Worte etwas mit dieser Erinnerung zu tun hatten. Ob sie vielleicht herausgefunden hatte, welches Geheimnis er vor mir verbarg, weil er glaubte, dass es die gesamte Art verändern würde, wie ich ihn sah. Das Geheimnis, das ich fast zwangsläufig entdecken musste, wenn meine Haut seine berührte.
Doch ich erhielt keine Gelegenheit, herauszufinden, was sie vor mir verbargen, da wir uns danach trennten. Carson fuhr mit Logan und Nickamedes zurück zur Mythos Academy, während Grandma Frost mich und Daphne zu ihrem Haus in der Innenstadt von Asheville mitnahm. Wir würden uns allerdings bald wiedersehen, da morgen früh der Unterricht losging, trotz der Tragödie im Kolosseum. Anscheinend hatten die Mächtigen von Mythos beschlossen, dass der Campus im Moment der sicherste Ort für Schüler war. Nach allem, was im Kolosseum geschehen war, konnte ich ihnen das nicht verübeln. Ausnahmsweise würde ich mich wirklich freuen, die Steinsphinxe zu sehen, welche die Schultore bewachten.
Grandma parkte das Auto auf der Straße, und zu dritt stapften wir die grauen Betonstufen zu ihrem lavendelfarbenen Haus hinauf. Ein Messingschild neben der Tür verkündete: Hellseherei hier. Grandma Frost setzte ihre Gypsygabe ein, um ein wenig zusätzliches Geld zu verdienen. Nebenjobs waren in der Frost-Familie so eine Art Tradition. Ich nutzte meine psychometrische Magie, um Dinge zu finden, die andere Mythos-Schüler verloren hatten – Laptops, Handys, Schlüssel, Taschen, Geldbeutel, Schmuck, BH s, Unterhosen und Boxershorts. Mit meiner Gypsygabe fiel es mir leicht, verlorene Gegenstände aufzuspüren.
Während Daphne ins Wohnzimmer ging, um ihre Eltern anzurufen und ihnen zu erzählen, was geschehen war, wanderten Grandma Frost und ich in die Küche. Mit den himmelblauen Wänden und den weißen Fliesen war die Küche der hellste, fröhlichste Raum im Haus. Heute erschien sie mir trotzdem kalt, dunkel und trist. Ich zog einen Stuhl zurück und ließ mich darauf fallen.
»Ich habe einen Apfelkuchen gebacken, während ihr im Kolosseum wart«, meinte Grandma Frost. »Willst du ein Stück, Süße?«
Sie deutete auf eine Kuchenform, die zum Abkühlen auf der Arbeitsplatte stand. Der Kuchen stand zwischen zwei Keksdosen – eine, die aussah wie ein riesiger Schokoladenkeks, und die andere von der Form einer blauen Schneeflocke. Die Schneeflockendose war mein Weihnachtsgeschenk an Grandma gewesen. Wir hatten eine Tradition, uns Dinge mit Schneeflocken darauf zu schenken. So etwas passiert einfach, wenn man mit Nachnamen Frost heißt. Dieses Jahr hatte Grandma mir einen langen, dunkelgrauen Wollschal, Handschuhe und eine dazu passende Wollmütze gekauft, deren Muster aus silberglitzernden Schneeflocken bestand.
»Süße? Ein Stück Kuchen?«, fragte Grandma wieder.
»Nein danke. Ich glaube nicht, dass ich im Moment etwas essen kann.«
Grandma Frost konnte phantastisch backen, und ich war ein echtes Schleckermäulchen, aber selbst der warme, süße Kuchen konnte mich heute nicht locken. Es erschien mir nach dem, was geschehen war, einfach falsch, etwas so Einfaches zu tun wie einen Kuchen zu essen.
»Ich
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