Frostherz: Mythos Academy 3 (German Edition)
hatte, konnte ich kaum erwarten zu sehen, welche Erinnerungen damit verbunden waren – und welche Geheimnisse meine Mom vielleicht hinterlassen hatte. Also holte ich tief Luft, legte das Seidenpapier zur Seite, schloss die Augen und ließ meine Finger sanft über den weichen Ledereinband gleiten.
Sofort schaltete sich meine psychometrische Magie ein, und Bilder meiner Mom erfüllten mich. Überwiegend sah ich sie am Schreibtisch in ihrem Wohnheimzimmer sitzen und in ihr Tagebuch schreiben oder malen. Sie war jung, ungefähr mein Alter, und trug das Haar in einem losen Pferdeschwanz. Da wurde mir klar, dass sie dieses Tagebuch geführt haben musste, als sie auf die Akademie gegangen war. Eins nach dem anderen blitzten die Bilder meiner Mom vor meinem inneren Augen auf und zeigten mir, wie sie an verschiedensten Stellen auf dem Campus in das Tagebuch schrieb – auf dem grasbewachsenen oberen Platz, in der schicken Mensa, selbst während sie auf den Stufen vor der Bibliothek der Altertümer saß.
Auf dieses letzte Bild konzentrierte ich mich, indem ich es packte und mir jedes Detail ansah. Ich hoffte, dass es mir etwas darüber verraten würde, wo der Helheim-Dolch versteckt war. Doch die Erinnerung zeigte nur, wie sie auf den Stufen der Bibliothek zwischen den zwei Steingreifen saß, die den Haupteingang bewachten. Meine Mom drehte den Kopf und starrte den Greif rechts von ihr an, dann wandte sie schnell den Blick ab. Das wunderte mich nicht. Die Statuen jagten mir auch immer einen kalten Schauder über den Rücken. Anscheinend war dieses Bild doch nicht so wichtig wie gedacht.
Ich ließ die Erinnerung los und surfte durch den Rest, der mit dem Tagebuch verbunden war, fand aber nichts Außergewöhnliches. Nur meine Mom beim Schreiben oder Kritzeln.
Nach ein paar Minuten verblassten die Bilder und Gefühle, was mir verriet, dass ich alles aufgefangen hatte, was das Tagebuch mir verraten konnte – zumindest über meine Gypsygabe. Ich öffnete die Augen wieder und blätterte durch die ersten Seiten. Meine Finger glitten über die wunderschöne, fließende Handschrift meiner Mom. Selbst wenn das Tagebuch keinen Hinweis darauf enthielt, wo meine Mom den Dolch versteckt hatte, war es immer noch ein Teil von ihr, und ich wollte es lesen. Ich wollte wissen, was sie getrieben hatte, während sie auf Mythos gewesen war, was sie von der Schule gehalten hatte, wer ihre Freunde und Feinde gewesen waren, auf welche süßen Jungs sie gestanden hatte, und besonders, wie sie den Mut gefunden hatten, Nikes Champion zu werden und gegen Schnitter zu kämpfen. Ich wollte alles wissen – all ihre Geheimnisse.
Da sich in dem Karton sonst nichts mehr befand, packte ich die ganze Kleidung und die anderen Dinge wieder hinein. Na ja, bis auf die Rolle Vierteldollarmünzen. Die würde ich ausgeben.
Ich hielt das Tagebuch zärtlich im Arm, als ich aufstand, das Licht ausschaltete und über die Treppe nach unten zu meinem Zimmer im ersten Stock ging. Daphne schlief bereits, und ich hob die Decke und kroch neben ihr ins Bett. Die Walküre murmelte etwas im Schlaf, dann rollte sie sich von mir weg. Ein paar pinkfarbene Funken knisterten um ihre Fingerspitzen, bevor sie verblassten. Ich lag still, und Daphne seufzte und versank wieder in tieferem Schlaf. Dann legte ich das Tagebuch meiner Mom vorsichtig neben mir auf den Nachttisch, um weiter unter die Decke zu rutschen, entschlossen, zu schlafen, damit ich morgen nicht vollkommen erschöpft war.
Langsam entspannte sich mein Körper, mein Geist begann zu wandern, die tröstende Schwärze hob sich und verdrängte die Schrecken des Tages. Ich war fast eingeschlafen – als vor dem Fenster ein tiefes, wütendes Knurren erklang.
Ich riss die Augen auf.
Ein solches Knurren hatte ich schon mehrmals gehört, und gewöhnlich bedeutete es, dass etwas mich fressen wollte.
Ich lag im Bett, die Decke bis ans Kinn hochgezogen, und lauschte angestrengt in die Dunkelheit, während ich kaum wagte zu atmen. Aber alles, was ich hörte, war Daphne. Die Walküre schnarchte, als steckte in ihrer Kehle eine kleine Motorsäge, was wirklich total nervig war. Ich wollte schon glauben, dass ich mir das Knurren nur eingebildet hatte, und sank zurück in den Schlaf …
Als ich es wieder hörte.
Diesmal konnte ich nicht so tun, als hätte ich es mir nur eingebildet. Ich glitt aus dem Bett, streckte die Hand aus und schnappte mir Vics Scheide. Dann zog ich das Schwert leise heraus und schlich zum Fenster.
»Was
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