Frostherz: Mythos Academy 3 (German Edition)
die Kisten eine nach der anderen durchwühlt, in dem Versuch, etwas zu finden – irgendetwas –, das mir verraten konnte, wo meine Mom den Helheim-Dolch versteckt hatte. Ich hatte meine Psychometrie eingesetzt und jeden einzelnen Gegenstand in jeder einzelnen Kiste berührt, in der Hoffnung, dass meine Mom mir einen Hinweis hinterlassen hatte, dass ich etwas anfassen, eine Schwingung empfangen und genau sehen würde, wo sie den Dolch versteckt hatte.
Das war mir schwerer gefallen als je zuvor etwas in meinem Leben.
Alles, was ich berührte, jeder Pullover, den ich in die Hand nahm, oder jede Halskette, über die ich meine Finger gleiten ließ, enthielt eine Erinnerung an meine Mom. In gewisser Weise war es, als sähe ich eine kondensierte Version ihres Lebens und all der Dinge, die sie gesehen, getan und gefühlt hatte. Es hatte Spaß gemacht, ihre Lieblingsspielzeuge aus der Kindheit anzufassen und zu erleben, wie sie damit gespielt hatte, ihr braunes Haar zum Pferdeschwanz gebunden und mit Sommersprossen auf dem Gesicht, wie ich sie auch hatte. Aber es erinnerte mich auch daran, wie sehr ich sie vermisste – und dass ich niemals wieder ihr Lächeln sehen, ihr Lachen hören oder mit ihr reden würde.
In gewisser Weise bedeutete ihre Sachen zu berühren, meine Mom noch mal zu verlieren – ein Dutzend kleine Tode in jeder einzelnen Kiste.
Aber ich war entschlossen, es durchzuziehen. Meine Mom hatte den Dolch versteckt, als sie selbst noch nach Mythos gegangen und der Champion von Nike, der griechischen Göttin des Sieges, gewesen war. Jetzt, als aktueller Champion der Göttin, war es meine Aufgabe, den Dolch zu finden – bevor es den Schnittern gelang.
Meine Hoffnung war langsam geschrumpft, nachdem ich Kiste um Kiste geöffnet hatte, ohne das zu finden, wonach ich suchte. Jetzt war nur noch ein Karton übrig, den ich noch nicht durchsucht hatte. Ich zog ihn in eine Ecke zu einem alten, grauen Sofa mit Samtbezug, öffnete den Deckel und fing an, die Dinge darin zu durchsuchen. Kleidung, ein abgetragener Hausschuh, ein paar ausgetrocknete Textmarker, ein paar Bücher, eine Rolle Vierteldollarmünzen, die meine Mom nicht zur Bank gebracht hatte. Eine seltsame Mischung.
Eines nach dem anderen berührte ich die Dinge in der Kiste, schloss die Finger um die Gegenstände, rief meine psychometrische Magie und strengte mich an, alles zu sehen, was ich mit meiner Gypsygabe sehen konnte. Ich empfing nur ein paar kleinere Visionen, wie meine Mom die Kleidung im Laden kaufte oder die Marker schlecht gelaunt schüttelte, weil sie leer waren. Ziemlich gewöhnliches Zeug. Überwiegend blitzen bei Alltagsgegenständen mit einem klaren Zweck, die mitunter von massenweise verschiedenen Leuten benutzt werden, wie Stiften, Computern oder Büroklammern, keine großen Visionen auf. Die heftigen, superklaren Bilder, die richtigen Killererinnerungen oder Gefühle, empfange ich gewöhnlich nur, wenn ich etwas berühre, zu dem eine Person eine tiefe, emotionale Verbindung hat. Das sorgt dafür, dass sie einen Teil von sich selbst darin zurücklässt, wie zum Beispiel bei einem geliebten Christbaumschmuck, den jemand als Kind selbst gebastelt hat.
Trotzdem berührte ich nacheinander jeden einzelnen Gegenstand in der Kiste, durchsuchte die Taschen der Kleidungsstücke und schüttelte die Bücher aus, nur für den Fall, dass meine Mom etwas zwischen die Seiten geschoben hatte. Nichts. Ich zog den letzten Pullover aus dem Karton und legte ihn neben mich. Ich war kurz davor, aufzugeben, als mir auffiel, dass darunter noch etwas versteckt gewesen war – ein alter Schuhkarton. Ich packte ihn und öffnete den Deckel in der Erwartung, ein Paar alte Winterschuhe zu finden, die meine Mom seit zehn Jahren nicht getragen hatte.
Stattdessen lag dort in einem Nest aus Seidenpapier ein kleines, altes, in Leder gebundenes Tagebuch.
Neugierig streckte ich die Hand aus und hob das Buch heraus. Das Seidenpapier schickte mir eine kurze Vision davon, wie meine Mom das Buch wegpackte, aber mehr auch nicht. Der graue Ledereinband war verblasst und angeschlagen, und die Kanten des Papiers wirkten wellig, als hätte jemand Wasser darüber verschüttet. Der Deckel glänzte hier und da silbern, doch erst auf dem Buchrücken und auf der Rückseite wurde deutlich, dass die silberne Prägung ein verschnörkeltes Muster aus Efeuranken und Blättern bildete.
Ich hatte nicht gewusst, dass meine Mom ein Tagebuch geführt hatte, aber jetzt, da ich es gefunden
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