Frostherz: Mythos Academy 3 (German Edition)
jetzt nicht aufgefallen? Na ja. Wann immer ich mich in den ersten Stock wagte, kam ich, um Nike zu besuchen, nicht irgendeine andere Göttin.
Die Statue von Sigyn war genauso riesig und beeindruckend wie die anderen. Die nordische Göttin der Hingabe trug ein langes Kleid, unter dessen wehenden Falten gerade noch ihre nackten Füße herausspähten. Seltsamerweise wirkte das Kleid teilweise zerrissen und ramponiert, als hätte in all den Jahren ständig etwas an ihrer Statue genagt, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, wie das in der Bibliothek passieren sollte. Besonders ihre Hände und Arme sahen aus wie von Pockennarben übersät. Ein Spinnennetz zog sich von einer Seite der Statue zur anderen und wirkte wie eine glitzernde, silberne Kette um den Hals der Göttin. Sigyn war ziemlich hübsch, aber in ihrem Gesicht schien die Trauer der ganzen Welt zu stehen. Fast wollte ich den Arm ausstrecken und sie trösten.
Ein paar Sekunden stand ich einfach nur da und starrte Sigyn in die steinernen Augen, bevor ich den Kopf schüttelte und mich wieder fing.
»Los jetzt, Gwen«, murmelte ich. »Konzentrier dich.«
Zuerst legte ich das Buch auf den Boden, das ich noch in der Hand hielt. Dann holte ich tief Luft, beugte mich vor und strich mit den Fingerspitzen über den kühlen Stein, während ich darauf wartete, dass meine Psychometrie sich einschaltete und Erinnerungen und Bilder meinen Geist erfüllten.
Doch statt Visionen von der Statue und all den Leuten aufzufangen, die sie über die Jahre gesehen und an ihr vorbeigegangen waren, fühlte ich nichts – überhaupt nichts. Kein Aufflackern von Gefühlen, keine Erinnerungen, nichts. Es war, als hätte niemand diese Statue je berührt – nicht einmal der Künstler, der sie geschaffen hatte.
Ich runzelte die Stirn. Meine Gypsygabe ließ mich immer irgendetwas sehen, ließ mich immer irgendetwas fühlen, wenn ich einen Gegenstand berührte, egal wie groß oder klein er war. Das einzige Mal, als keine Visionen vor meinem inneren Auge aufgeblitzt waren, hatte ich eine Illusion berührt. So hatte Jasmine es geschafft, mich glauben zu lassen, sie wäre tot – sie hatte eine Illusion ihrer Leiche auf dem Bibliotheksboden erzeugt.
Ich klopfte mit den Knöcheln gegen den Stein, und das dumpfe Pock-pock-pock hallte durch die Bibliothek. Nö, diese Statue war so real wie ich selbst. Vielleicht hatte sie so lange keiner berührt, dass alle mit ihr verbundenen Erinnerungen bereits verblasst waren. Das konnte manchmal passieren, wenn Gegenstände eingelagert und über lange Zeit nicht benutzt wurden.
Da ich keine Schwingungen vom Stein empfing, entschied ich, auf die altmodische Art zu suchen – ich ließ die Hände über die Statue gleiten und klopfte auf der Suche nach einem Geheimversteck auf jede Stelle, die ich erreichen konnte. Okay, okay, vielleicht hatte ich in den Winterferien zu viele alte Scooby-Doo -Cartoons geschaut, aber ich fand, es war einen Versuch wert.
Nichts. Ich fand nichts. Sigyns Statue bestand aus massivem Marmor. Ich schleppte sogar eine Leiter zu der Statue, um auch die höheren Bereiche untersuchen zu können. Trotzdem fand ich nichts. Ich wusste nicht, warum das Schnittermädchen Sigyns Statue auf der Karte markiert hatte, aber der Dolch war nicht hier. Vielleicht war er überhaupt nicht in der Bibliothek.
Enttäuscht kletterte ich von der Leiter, zog sie zur Wand und stellte sie auf ihren Platz neben einem hohen, schmalen Bücherregal. In der Bibliothek fand man überall ähnliche Leitern, damit die Schüler auch die höheren Regalbretter erreichen konnten. Außerdem sammelte ich das Buch wieder ein, das ich zu Sigyns Füßen auf den Boden gelegt hatte, warf einen kurzen Blick auf die Signatur auf dem Rücken und wanderte zu der Stelle, an die es gehörte.
Ich fand das richtige Regal und schob das Buch an seinen angestammten Ort. Gerade wollte ich mich umdrehen, um die Treppe wieder nach unten zu gehen, als mir eine silberne Plakette an der Wand neben dem Regal auffiel. Architektursammlung #1–13. Dieses Schild erinnerte mich an den Aufsatz, den ich für Mythengeschichte schreiben musste. Wenn ich schon hier oben war, konnte ich mir genauso gut ein paar Bücher schnappen. Immerhin hatte Metis ja echte Quellen für den Aufsatz gefordert.
Eines nach dem anderen zog ich die Bücher aus den Regalen und öffnete sie, um kurz die Inhaltsverzeichnisse zu überfliegen. Ich empfing keine echten Schwingungen von den dicken Wälzern, nur entfernte, vage
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