Frostherz: Mythos Academy 3 (German Edition)
versteckt war, also richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Karte.
Ein weiteres X bezeichnete die Stelle im Hauptraum, an der früher die Vitrine mit der Schale der Tränen gestanden hatte. Ich hatte es geschafft, das Artefakt mithilfe von Vic zu zerstören, und die Vitrine war schon lange verschwunden, von Jasmine beim Diebstahl der Schale in Stücke geschlagen.
Dort war der Dolch also auch nicht versteckt, deshalb wandte ich mich dem nächsten X zu. Eines nach dem anderen studierte ich jedes Kreuz auf der Karte, und meine Enttäuschung stieg im selben Maße, in dem mein Mut sank. Entweder war das Schnittermädchen nicht so clever, wie ich bis jetzt gedacht hatte, oder mit der Karte stimmte etwas nicht. Jedes einzelne Kreuz befand sich an einer Stelle, an der der Dolch einfach nicht sein konnte . Wie der Kaffeewagen oder ein Teil der Bibliothek, von dem ich wusste, dass er eigentlich vollkommen leer war. Seltsam. Sehr seltsam. Warum sollte man auf einer Karte Verstecke markieren, die eigentlich gar keine Verstecke waren?
Ich wollte die Karte gerade als hoffnungslosen Fall abtun, als mir auffiel, dass es noch ein Kreuz gab, das ich bis jetzt übersehen hatte – ein Kreuz, das eine Stelle auf der Galerie im ersten Stock kennzeichnete. Ich sah auf, in dem Versuch, der Markierung einen Ort in der Bibliothek zuzuordnen. Es kostete mich mehrere Sekunden zu verstehen, dass das X eine der Statuen markierte, und zwar die von Sigyn, der nordischen Göttin der Hingabe – und Lokis Ehefrau.
Vor Jahrhunderten, als Loki begonnen hatte, Ärger zu machen und den Tod von Balder, des nordischen Gottes des Lichts, verursacht hatte, hatten die anderen Götter ihn unter einer riesigen Schlange angekettet, von der ständig Gift auf sein gut aussehendes Gesicht tropfte. Sigyn hatte die Schale der Tränen verwendet, um das Gift so weit wie möglich von ihm fernzuhalten, obwohl es dabei auch auf sie getropft war. Sigyn hatte trotzdem jahrelang die Schale gehalten und immer wieder geleert – bis Loki die Göttin irgendwie dazu gebracht hatte, ihm bei der Flucht zu helfen, nur um sie dann zurückzulassen.
Zuerst hatte ich Sigyn für ziemlich dämlich gehalten, weil sie all diese Jahre versucht hatte, Loki zu helfen, aber inzwischen tat sie mir einfach nur noch leid. Trotzdem kam Sigyn in allen Mythengeschichtsbüchern nie besonders gut weg. Die Leute machten sie dafür verantwortlich, dass Loki entkommen war und den Chaoskrieg angezettelt hatte. Ich fand, dass es nicht ihr Fehler war, dass ihr Ehemann sich als ein psychotischer Meisterkrimineller entpuppt hatte. Außerdem predigte Grandma Frost mir immer, dass jeder seine eigenen Entscheidungen treffen musste. Wahrscheinlich war es bei den Göttern dasselbe.
Ich beäugte die Karte genauer. Sigyns Statue lag in einem Teil des ersten Stocks, den ich nicht allzu oft betrat. Es war schon mit den Greifen und den anderen Statuen draußen schlimm genug, die mich ständig anzustarren schienen – ich wollte nicht auch noch das Gefühl bekommen, von den Figuren der Götter ebenfalls beobachtet zu werden.
Trotzdem, während ich dieses Kreuz betrachtete, beschleunigte sich mein Herzschlag. Sigyns Statue stand an einem recht abgelegenen Ort des Pantheons, weit entfernt von den Treppen, die in den ersten Stock führten. Der perfekte Ort, um den Helheim-Dolch zu verstecken. Ich bezweifelte, dass selbst Nickamedes diesen Teil der Bibliothek öfter als ein- oder zweimal im Jahr betrat. Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht befand sich der Dolch ja doch in der Bibliothek. Am liebsten wäre ich sofort hinaufgegangen, hätte das Versteck des Dolches gefunden und hätte dem Bibliothekar so gezeigt, wie falsch er gelegen hatte …
»Bist du Gwen?«, fragte eine sanfte Stimme.
Ich sah auf und entdeckte Vivian Holler vor dem Ausleihtresen. Krauses kastanienbraunes Haar, hübsches Gesicht, goldene Augen. Vivian stand auf den Zehenspitzen und bemühte sich, über den Tresen zu spähen, um zu sehen, was ich tat.
»Was schaust du dir an?«, fragte sie.
Schnell faltete ich die Karte einmal, sodass sie nicht mehr lesbar war. »Nichts. Nur eine Hausaufgabe für Mythengeschichte. Du kennst ja Professor Metis. Sie gibt uns immer was auf.«
»Aber du bist Gwen, richtig? Gwen Frost?«, fragte Vivian. »Das Gypsymädchen.«
»Jupp, das bin ich. Das unvergleichliche Gypsymädchen. Brauchst du Hilfe auf der Suche nach einem Buch oder irgendwas?«
Sie schüttelte den Kopf. »Kein Buch, aber ich
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