Frostkuss
die Einzige, die sich dafür interessiert hat, Gwendolyn«, sagte sie ernst, als wäre das sehr wichtig.
»Aber ich habe doch nichts getan«, protestierte ich. »Nicht wirklich. Zumindest nichts Wichtiges. Ich habe mich nur so durchgewurschtelt und bin Leuten gefolgt und habe meine Gypsygabe eingesetzt, um Schwingungen aufzufangen. Das war doch nichts, was jemand anderes nicht auch hätte tun können.«
»Das ist wahr«, stimmte Nike zu. »Aber zumindest war es dir wichtig genug, es zu versuchen. Das ist etwas wert. Genau wie damals, als du deiner Mutter erzählt hast, dass dieses Mädchen missbraucht wurde.«
»Das hast du auch gesehen?«, flüsterte ich.
Sie nickte. »Ich sehe viele Dinge, aber am deutlichsten sehe ich die Stärke und Güte in deinem Herzen. Doch ich kann dich zu nichts zwingen, was du nicht tun willst, Gwendolyn. Es ist deine Entscheidung.«
Ich stand da und dachte darüber nach. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich Champion-Material war. Aber wer war ich schon, dass ich mit einer Göttin diskutieren konnte? Besonders mit der Göttin des Sieges? Trotzdem würde ich mich nicht einfach blind auf die Sache einlassen.
»Was passiert, wenn ich Nein sage?«, fragte ich. »Ich meine, jetzt im Moment in der Bibliothek?«
»Du meinst den Spartanerjungen?«, fragte Nike.
»Na, er wird natürlich sterben«, blaffte Vic, das Schwert, und starrte mich mit seinem einzelnen Auge an. »Wenn der Pirscher ihn nicht umbringt, erledigt es sicherlich die Walküre. Was glaubst du denn, was passieren wird?«
Trauer erfüllte mich, und meine Knie zitterten. Logan. Ich wankte zu einem der Bibliothekstische und lehnte mich dagegen.
»Das wäre nicht dein Fehler, Gwendolyn«, sagte Nike. »Der Spartanerjunge hat selbst die Entscheidung getroffen, in die Bibliothek zu kommen. Das war, was ihm geschehen musste.«
Was ihm geschehen musste? Was sollte das bedeuten? Dass alles von Anfang an vom Schicksal bestimmt war oder etwas in der Art? Ich fragte mich, ob die Göttin auch wusste, dass mir dies alles geschehen sollte, hakte aber nicht nach.
Jetzt, da ich wusste, dass Logan sonst sterben würde, war mir die Entscheidung abgenommen worden. Sicher, ich war immer noch total sauer auf ihn wegen … wegen allem eben. Aber er war mir heute Abend nachgelaufen, war mir aus irgendwelchen Gründen in die Bibliothek gefolgt. Ich konnte weder das noch die Gefühle ignorieren, die er in mir auslöste. Ich … konnte es einfach nicht.
»In Ordnung«, erklärte ich. »Ich werde dein Champion sein, Nike.«
Ein Lächeln breitete sich auf dem schönen Gesicht der Göttin aus, und die Flügel auf ihrem Rücken zuckten. »Dann streck die Hände aus, Gwendolyn Frost, und nimm die Geschenke entgegen, die ich dir geben kann.«
Ich tat, worum sie mich gebeten hatte. Nike legte mir Vic, das Schwert, in die Hände. Die Waffe starrte mich mit ihrem einen Auge an.
»Also gut«, sagte Vic in einem etwas zufriedeneren Tonfall. »Können wir jetzt irgendwas töten gehen?«
»Ähm, eigentlich weiß ich gar nicht, wie man tötet.«
»Sie weiß nicht mal, wie man richtig tötet? Was für einem Mädchen hast du mich da übergeben, Göttin?«, protestierte Vic und richtete sein Auge erneut auf Nike.
Nike lachte. »Vic ist ein wenig blutrünstig. Du wirst dich daran gewöhnen.«
Das bezweifelte ich irgendwie.
Nike sah mich noch einen Moment an, dann tat sie etwas sehr Seltsames. Sie lehnte sich vor und küsste mich auf die Wange.
Sofort fühlte ich, wie sich kalte Macht in mir ausbreitete, als hätte sich mein Blut in Eis verwandelt. Ich wappnete mich und wartete darauf, dass etwas in mir aufblitzte, obwohl ich keine Ahnung hatte, was der Kontakt mit einer Göttin auslösen würde. Aber dann verschwand das eisige Gefühl wieder, und ich empfing auch keine Schwingungen von ihr. Trotzdem fühlte ich mich irgendwie anders, als hätte sich etwas in mir an eine neue Stelle geschoben. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ich atmete aus, und mein Atem bildete vor meinem Mund Dampfwolken, obwohl mir gar nicht mehr kalt war.
Nike streckte die Arme aus und legte ihre Hände über meine. Ich starrte ihr in die Augen – Augen, die weder purpurn noch grau waren, sondern stattdessen die Farbe der Dämmerung hatten. Und wieder fühlte ich, wie die Macht in ihrem Blick mich gefangen nahm. Eine kalte, harte Macht, aber trotzdem nicht unangenehm.
»Jetzt geh«, sagte Nike. »Rette den Spartanerjungen.«
Ich sah zu ihr auf. »Aber wie soll ich das
Weitere Kostenlose Bücher