Frostkuss
dunkel. Das goldene Leuchten der Laternen am Wegesrand und bei den Gebäuden konnte die schwarzen Schatten nicht bannen. Oder vielleicht lag es nur daran, dass ich aus dem Zimmer eines toten Mädchens einen Laptop und andere persönliche Dinge gestohlen hatte und jetzt ziemliche Schuldgefühle hatte.
Ich zog meine ID-Karte durch den Scanner und betrat das Wohnheim. Ein paar Mädchen, überwiegend Amazonen, hingen im Aufenthaltsraum herum, schrieben SMS, sahen fern oder taten beides gleichzeitig. Wieder einmal beachtete mich niemand, als ich die Treppe nach oben ging. Ich bezweifelte, dass sie überhaupt wussten, dass ich hier lebte.
Mein Zimmer war das einzige im zweiten Stock und versteckte sich in einem abgetrennten Türmchen, das aus irgendeinem Grund an das Gebäude angebaut worden war. Die Wände waren gerade, obwohl sich das Dach wie eine Pyramide über mir erhob. In die Wände waren ein paar riesige Buntglasfenster eingelassen. Dazu gehörte auch eines mit einer gepolsterten Fensterbank, von der aus man einen phantastischen Blick über den Campus und die dahinter aufragenden Gipfel der Appalachen hatte.
In meinem Zimmer gab es grundsätzlich dieselbe Einrichtung wie in Jasmines – ein Bett, einen Schreibtisch, ein paar Bücherregale, ein winziger Fernseher. Doch bei mir war nichts davon so hübsch oder so teuer. Trotzdem gefiel es mir. Grandma Frost hatte mir dabei geholfen, das Zimmer mit meinem ganzen Zeug von zu Hause einzurichten, wie meinen Postern von Wonder Woman, Karma Girl und einem von den Killers. Meine superdicke, purpurgrau karierte Tagesdecke lag auf dem Bett zusammen mit den großen, weichen Kissen, die ich so mochte. In den Fenstern hingen mehrere gläserne Schneeflocken von Swarovski.
Die Schneeflocken waren ein Insiderwitz. Bei einem Nachnamen wie Frost war das irgendwie unvermeidlich. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, wann es angefangen hatte, aber jedes Jahr schenkte mir Grandma etwas mit einer Schneeflocke darauf zu Weihnachten und ich ihr ebenso. Letztes Jahr hatte ich ihr einen Schal mit Schneeflockenmuster gekauft und hatte von ihr im Gegenzug die Kristallflocken bekommen.
Sie waren die Gegenstände im Raum, die mir am meisten bedeuteten, abgesehen von dem Bild meiner Mom, das direkt neben dem neuesten Comic auf dem Schreibtisch stand.
Ich öffnete den kleinen Kühlschrank am Fußende meines Bettes und nahm einen Karton Milch und ein paar Stücke des Kürbiskuchens heraus, den Grandma Frost mir mitgegeben hatte. Dann zog ich Jasmines Laptop aus meiner Tasche, zusammen mit dem Buch und dem Foto, und legte alles auf meinen zerkratzten Holzschreibtisch. Während ich die Milch trank und den Kürbiskuchen mit seiner süßen Quarkfüllung herunterschlang, steckte ich den Laptop ein und wartete, während er hochfuhr.
Es dauerte ewig, oder vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich so scharf darauf war, Jasmines Dateien zu durchsuchen. Endlich erschien der Startbildschirm – und fragte mich in einem kleinen Eingabefeld nach dem Passwort.
Ich trank den letzten Schluck Milch und ließ die Fingerknöchel knacken. Dann legte ich die Hände langsam auf die Tasten, während ich darauf wartete, dass mich Schwingungen und Visionsblitze trafen und mich erfüllten, wie sie es immer taten.
Nichts geschah.
Ich runzelte die Stirn. Nein, das stimmte nicht ganz. Ein bisschen was passierte. Es blitzten ein paar Bilder von Jasmine auf, die an ihrem Schreibtisch saß, Musik herunterlud oder im Internet einkaufte. Und ich fühlte … Befriedigung. Die Art von selbstgefälliger Befriedigung, die man empfand, wenn man genau das bekam, was man wollte, egal wie teuer es war. Jasmine musste wirklich nach den schwarzen Stiefeln mit Stilettoabsatz gegiert haben, die sie letzte Woche gekauft hatte.
Das Problem war, dass ich nicht den vollen Ansturm empfand, der normalerweise kam, wenn ich die Sachen von jemandem berührte. Vielleicht hätte ich damit rechnen müssen. Computer gehörten zu den Gebrauchsgegenständen, die ich anfassen konnte, ohne viele Schwingungen zu empfangen, besonders die in der Bibliothek, die von Massen von Schülern genutzt wurden. Vielleicht hatte Jasmine ihren Laptop einfach nicht oft genug benutzt, um einen großen Eindruck von sich selbst zu hinterlassen. Vielleicht gab es auf der Festplatte gar nichts Interessantes zu finden. Vielleicht hatte sie gar keine finsteren Geheimnisse.
Vielleicht war ich gerade vollkommen umsonst ins Zimmer einer Toten eingebrochen.
Ich
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