Frostkuss
Bett zurück, griff mir die Tüte mit den Gummibärchen und stellte mich auf eine lange Wartezeit ein.
Drei Minuten später drückte Daphne noch einmal mit Nachdruck Enter und reckte triumphierend die Faust in die Luft. »Ha! Geschafft!«
Ich setzte mich auf. »Du hast es schon geknackt?«
»Natürlich habe ich es schon geknackt«, sagte sie selbstzufrieden. »Es war nur ein einfacher Passwortschutz. Es war ja nicht so, als hätte Jasmine ihren Computer wirklich gesichert.«
»Na dann«, sagte ich und stellte mich hinter Daphne. »Lass uns schauen, was alles drauf ist.«
In den nächsten zehn Minuten surfte Daphne durch alle Dateien auf dem Laptop. Ein Großteil war total langweilig. Geschichtsarbeiten, Aufsätze und all die anderen Hausaufgaben, die Mythos-Schüler so zu erledigen hatten. In Jasmines Internetverlauf fanden wir jede Menge Musikseiten und Luxus-Internetshops. Sie hatte sogar eine Datenbank, die einzig und allein dem Zweck diente, ihre Designerklamotten, -schuhe und -handtaschen zu verwalten. Anscheinend hatte die Walküre darüber Buch geführt, wie oft und wann sie welches Outfit getragen hatte – und zwar nie öfter als einmal im Monat. Ich hatte gerade mal genug verschiedenfarbige Kapuzenshirts, um jeden Tag der Woche ein anderes zu tragen.
Dann rief Daphne Jasmines private E-Mails auf – diejenigen, die nicht öffentlich auf ihrer Mythos-Academy-Webseite einzusehen waren. Und die? Die waren um einiges interessanter als alles andere auf dem Computer.
Jasmine mochte ja das hübscheste, reichste, beliebteste Mädchen in unserem Jahrgang gewesen sein, aber wie Carson Callahan schon gesagt hatte, das netteste war sie nicht. In ihren E-Mails fanden sich bösartige, lästerhafte Kommentare über so gut wie jeden auf Mythos, besonders über Morgan McDougall, ihre angeblich beste Freundin – und auch über Daphne.
»Sie hat Morgan erzählt, ich sähe in diesen engen pinkfarbenen Jeans aus wie eine Kuh? Sie ist diejenige, die mir überhaupt erst geraten hat, sie zu kaufen! Miststück«, murmelte Daphne. »Lass uns mal schauen, was Jasmine sonst noch über mich geschrieben hat.«
»Um ehrlich zu sein, bin ich eher daran interessiert, was sie über Morgan und Samson Sorensen geschrieben hat«, erklärte ich.
Daphne warf mir über die Schulter einen Blick zu. »Warum?«
Ich zeigte ihr das Bild, das ich von Morgan und Samson gefunden hatte – das Foto, das in zwei Teile gerissen ganz unten in ihrem Mülleimer gelegen hatte. »Ich habe es noch nicht berührt, aber es muss irgendwas bedeuten.«
»Was meinst du damit, du hast es noch nicht berührt?«, fragte Daphne misstrauisch.
Ich seufzte. »Ich meine, ich habe es noch nicht berührt -berührt. So funktioniert meine Gypsygabe. Ich muss etwas anfassen, bevor ich Schwingungen empfange. Bevor ich etwas über den Gegenstand erfahren kann oder über die Person, der er gehört.«
»Warum tust du es nicht jetzt?«, fragte Daphne mit verärgerter Stimme. Jasmines E-Mails zu lesen hatte sie anscheinend wirklich auf die Palme getrieben. »Ich habe nämlich nicht vor, noch mal hierherzukommen, um dir zu helfen.«
»In Ordnung«, murmelte ich.
Ich ließ mich aufs Bett fallen, hob die zwei Teile des Fotos hoch und hielt sie nebeneinander, als wollte ich das Bild wieder zusammensetzen. Für mehrere lange Sekunden spürte ich gar nichts, und ich fragte mich, ob meine Psychometrie überhaupt funktionieren würde oder ob sie irgendwie kaputtgegangen war. Jasmines Laptop hatte keine großen Visionsblitze ausgelöst, und von ihrer Leiche oder dem Blut in der Bibliothek hatte ich überhaupt keine Schwingungen empfangen. Vielleicht stimmte etwas mit mir und meiner Gypsygabe nicht.
Ich wollte das Foto gerade wieder weglegen, als ich ein leises Aufflackern spürte – ein nagendes Gefühl der Sorge, das sich immer tiefer in mein Herz grub. Während ich das Bild weiter festhielt, wurde die Sorge größer und verwandelte sich in eine Welle aus Misstrauen, die sich anfühlte, als hätte ich Blei im Magen. Dann wurde das Blei zu Eis, als sich kaltes Wissen in mir ausbreitete. Ich erkannte die Gefühle und verstand, was sie bedeuteten. Nagende Sorge, dann heftiges Misstrauen und schließlich eiskaltes Erkennen. Was auch immer Jasmines Vermutung nach zwischen Morgan und Samson gewesen war, zwischen ihrer besten Freundin und ihrem Freund, sie hatte etwas gesehen oder gehört, das sie glauben ließ, es sei wahr.
Aber das war noch nicht das Ende.
Die kalte Gewissheit
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