Frostnacht
Augen unverwandt auf Jason gerichtet. Sie fletschte die Zähne, während ein stetiges Knurren aus ihrer kleinen Kehle drang wie das Brummen eines Motors. Jason wollte fliehen, aber auch diesmal gab sein Bein nach. Er schrie vor Schmerz auf und hielt inne.
»Es ist vorbei«, sagte ich. »Du bist verletzt, wir nicht. Gib auf.«
Er drehte sich zu uns um. Der Blick seiner Augen, die immer noch in diesem schrecklichen Schnitterrot leuchteten, glitt von mir zu Oliver und zurück. Doch statt mir zu antworten, griff Jason in seine Hosentasche. Ich spannte mich an, weil ich damit rechnete, dass er einen Dolch oder vielleicht einen Wurfstern hervorziehen würde, doch stattdessen erschien eine rote Papiertüte zwischen seinen Fingern. Er verschwendete keine Zeit, sondern riss sie mit den Zähnen auf.
Oliver setzte sich in Bewegung, aber ich hob eine Hand, um ihn aufzuhalten. In dieser Tüte befand sich wahrscheinlich dasselbe weiße Pulver, das Jason in mein Wasser gemischt hatte. Vielleicht musste man das Gift schlucken, damit es wirkte, vielleicht reichte es aber auch, wenn es in Kontakt mit der Haut oder den Schleimhäuten von Augen oder Nase kam. Egal wie, er konnte uns damit vielleicht erledigen, und dieses Risiko wollte ich nicht eingehen.
Als Jason verstand, dass wir nicht dämlich genug waren, ihn trotzdem anzugreifen, zog er einen wütenden Schmollmund. Hinter uns gingen in der Bibliothek immer mehr Lichter an, und Schreie hallten durch die Nachtluft.
»Es ist vorbei«, wiederholte ich. »Jeden Moment werden die Protektoratswachen hier auftauchen. Du bist erledigt. Gib auf.«
Jason starrte mich an, als würde er über meine Worte nachdenken. Dann sah er zu Oliver, bevor er den Blick auf die Tüte in seiner Hand senkte. Er zögerte noch eine Sekunde, dann hob er die Tüte. Sofort verstand ich, was er tun wollte – sich selbst vergiften, sich selbst dem bösen Gott opfern.
»Tu es nicht«, warnte ich. »Loki ist es nicht wert. Vertrau mir. Du hast bereits dein Leben ruiniert, indem du ihm gedient hast. Lass dir den Rest davon nicht auch noch stehlen.«
»Als könnte ich zu den anderen Schnittern zurückkehren, jetzt, da ich bei meiner Mission versagt habe. Und natürlich ist Loki es wert«, höhnte Jason. Seine Stimme, die ich bis jetzt immer als sanft und freundlich empfunden hatte, klang hart vor Hass. »Das wird dir schon noch früh genug aufgehen – wenn du und all deine dämlichen Freunde zu seinen Füßen kauern. Dieser Tag kommt, Gypsy – früher, als du denkst.«
In dem Moment, in dem ich vortrat, um ihn aufzuhalten, wusste ich, dass es schon zu spät war. Jason holte einmal tief Luft, kippte sich den Inhalt der Tüte in den Mund und schluckte. Dann verzog er das Gesicht, als hätte das Pulver einen schlechten Geschmack auf seiner Zunge hinterlassen. Nach einem Moment quollen seine Augen hervor, er hob die Hände und fing an, an seinem eigenen Hals herumzukratzen.
»Brennt …«, keuchte er. »Es … brennt …«
Jasons Beine gaben nach, und er fiel auf das kalte, schneebedeckte Gras. Ich ging zu ihm, aber es hatte keinen Zweck mehr. Er fing an zu zucken, und ein seltsamer Geruch hing in der Luft – fast wie der Duft von Kiefernharz. So schnell die Zuckungen begonnen hatten, so schnell waren sie auch vorbei. Der Kopf des Schnitters rollte zur Seite, und ein kleines Rinnsal winterweißer Schaum sickerte aus seinem Mundwinkel.
Ich beobachtete, wie das wilde, rote Brennen in Jasons Augen verblasste, schwächer wurde und schließlich starb – genau wie er.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich über Jasons Leiche stand und in die leeren Augen starrte, als könnte ich darin wichtige Antworten finden.
Als könnte ich so verstehen, warum jemand sich freiwillig dazu entschied, einem Gott zu dienen, der kein anderes Ziel hatte, als andere Leute zu verletzen, zu töten und zu versklaven. Als könnte mir der Blick in seine Augen verraten, warum er sich für ein solch schreckliches Wesen wie Loki geopfert hatte. Lag es daran, dass der böse Gott seinen Gefolgsleuten Macht versprach? Oder gab es einen vollkommen anderen Grund? Ich wusste es nicht, und ich verstand es nicht. Ich war mir nicht mal darüber im Klaren, ob ich es jemals kapieren würde – und vielleicht wollte ich es auch einfach nicht verstehen.
»Gwen?«, fragte Oliver und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Alles okay?«
Ich stieß den Atem aus. »Schon. Wir leben, er aber nicht mehr. Ich nehme an, das ist das Wichtigste,
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