Frostnacht
weiß, sind sie erst letztes Frühjahr in dieses Viertel gezogen und kamen dann im Herbst an unsere Schule. Ich habe Elías unterrichtet, zuletzt vorgestern, glaube ich. Er war geschickt mit den Händen, der Junge. In dieser Altersstufe machen wir keine komplizierten Sachen, wir sägen ein bisschen und so was.«
»Hat er sich gut in die Klasse eingefügt?«
»Den Eindruck hatte ich. Er war halt einfach eines von den Kindern.«
»Hast du etwas von Auseinandersetzungen zwischen dunkelhäutigen Kindern und den anderen bemerkt?«
»Eigentlich kaum«, sagte Egill und strich sich den Bart. »Aber es bilden sich gewisse Cliquen, das kann man immer beobachten. Ich bin nicht sonderlich angetan von Kjartan, unserem Isländischlehrer. Ich glaube, seinetwegen gibt es da einige Spannungen. So ganz richtig tickt er nicht, der Ärmste. Mit dem Handball war es aus, als die Karriere zum Greifen nah war. So was kann einen Menschen kaputtmachen. Mit dem solltest du über diese Dinge reden, der weiß da besser Bescheid.«
Sie schwiegen. Auf dem Schulhof war alles ruhig.
»Es geht also alles zum Teufel«, sagte Erlendur schließlich. »Ich fürchte, ja.«
Sie saßen noch eine ganze Weile in dem zugequalmten Auto. Mit einem Mal fiel Erlendur ein, dass Sigurður Óli früher an dieser Schule gewesen war, und ganz spontan fragte er Egill danach. Der musste eine Weile nachdenken, bis er sich an diesen Jungen erinnern konnte, der vor vielen Jahren die Schule besucht hatte und ziemlich von sich eingenommen gewesen war.
»Wirklich komisch, an was man sich im Zusammenhang mit den Kindern erinnert und an was nicht«, sagte Egill. »Ich glaube, sein Vater war Klempner.«
»Klempner?«, sagte Erlendur, der über Sigurður Óli nichts wusste, was über die Arbeit hinausging, obwohl sie bereits seit Jahren zusammenarbeiteten. Sie unterhielten sich nie über ihr Privatleben, und das passte beiden ausgezeichnet in den Kram. Das zumindest hatten sie gemeinsam.
»Ja, Klempner und ein unverbesserlicher Kommunist«, fügte Egill hinzu. »Er sorgte damals für einiges Aufsehen, denn er erschien bei sämtlichen Elternversammlungen oder wenn in der Schule sonst etwas los war. Das war sehr ungewöhnlich, denn die anderen Väter ließen sich nie mit ihren Kindern hier blicken. Der Kerl erschien aber dauernd und ließ geharnischte Reden über die verdammten Reaktionäre vom Stapel.«
»Und die Mutter?«
»Die habe ich nie getroffen«, sagte Egill. »Er hatte irgendeinen Spitznamen, der Kerl, das hatte was mit Klempnern zu tun. Mein Bruder ist ebenfalls Klempner, und er wusste sofort, um wen es sich handelt. Wie haben sie ihn doch noch genannt?«
Erlendur beäugte noch einmal heimlich die Beule, die jetzt wieder blass geworden war.
»Wieso kann ich mich nicht daran erinnern?«, fragte Egill.
»Ich brauch das nicht zu wissen«, erklärte Erlendur.
»Doch, jetzt erinnere ich mich. Sie nannten ihn den ›Dauertropf‹.«
Finnur war Klassenlehrer in der dritten Jahrgangsstufe. Er saß im Lehrerzimmer, denn seine Klasse hatte Musikunterricht. Elínborg störte ihn beim Korrigieren.
»Wenn ich richtig verstanden habe, ist es zwischen dir und einem anderen Lehrer hier, Kjartan, zu einem Eklat gekommen«, sagte Elínborg, nachdem sie sich vorgestellt hatte. Die Sekretärin hatte ihr gesagt, wo Finnur zu finden war.
»Kjartan und ich sind keine Freunde«, erklärte Finnur. Er war gut dreißig Jahre alt und schlank, hatte eine dunkle, dichte Mähne und trug Jeans und eine Fleecejacke.
»Was ist zwischen euch vorgefallen?«
»Habt ihr schon mit ihm gesprochen?«
»Ja, das hat mein Kollege getan.«
»Und?«
»Und nichts. Was ist vorgefallen?«
»Kjartan ist ein Vollidiot«, antwortete Finnur. »Er sollte eigentlich nicht unterrichten dürfen, aber das ist meine ganz private Ansicht.«
»Hat er irgendwelche Bemerkungen fallen lassen?«
»Das macht er ständig. Allerdings passt er auf, dass er nicht zu weit geht, sonst würde er hier an der Schule nicht alt werden. Unter vier Augen ist er aber nicht so zurückhaltend.«
»Was hat er gesagt?«
»Es ging um die ausländischen Einwandererkinder mit dunkler Hautfarbe. Ich glaube aber nicht, dass er etwas mit diesem entsetzlichen Vorfall zu tun hat.«
Finnur zögerte einen Augenblick.
»Ich wusste, dass er mich in Harnisch bringen wollte. Ich finde es völlig in Ordnung, wenn Leute aus anderen Weltgegenden hierherkommen, und mir ist es auch egal, mit was für Absichten sie das tun, falls sie nicht
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