Frostnacht
die Kinder seien gerade im Musikunterricht, und der Raum stünde leer. Elínborg folgte ihr dorthin. In dem Raum hingen an den Wänden Zeichnungen, und man sah, dass sie von Kindern in unterschiedlichem Alter angefertigt worden waren. Es gab ganz schlichte Bilder im Strichmännchenstil, aber auch nahezu realistisch wirkende Porträts. Elínborg bemerkte einige wenige Zeichnungen von isländischen Bauernhöfen zu Füßen eines Berges und mit leuchtend blauem Himmel, einigen Wolkenbällchen und einer strahlenden Sonne. Sie konnte sich daran erinnern, dass das auch schon zu ihrer Schulzeit ein beliebtes Motiv gewesen war, und wunderte sich im Stillen über dessen Langlebigkeit.
»Das hier stammt von Elías«, sagte Emilía und nahm ein Bild aus der Schublade des Lehrerpults. »Sie haben seinerzeit die Bilder nicht abgeholt, als die beiden die Schule wechselten. Dieses hier habe ich nicht wegwerfen mögen, denn man kann daran deutlich sehen, dass er Zeichentalent hatte.«
Elínborg betrachtete das Bild. Sie musste der Lehrerin zustimmen, Elías war wirklich sehr begabt. Er hatte ein Frauenantlitz mit extrem großen, braunen Augen, dunklem Haar und strahlendem Lächeln gezeichnet, der Hintergrund war in hellen und klaren Farben gehalten.
»Das stellt seine Mutter dar«, sagte Emilía lächelnd. »Die arme Frau, was sie durchmachen muss!«
»Hast du ihn schon unterrichtet, als er eingeschult wurde?«, erkundigte sich Elínborg.
»Ja, vom ersten Schuljahr an, kaum zu glauben, das war erst vor vier Jahren. Er war immer so ein lieber und guter Junge, die ganze Zeit. Ein bisschen verträumt. Deswegen fiel es ihm manchmal etwas schwer, sich auf das Lernen zu konzentrieren, und es hat einige Mühe gekostet, ihn dazu anzuhalten. Er konnte stundenlang Löcher in die Luft starren und befand sich dann wohl irgendwo in seiner eigenen Welt.«
Emilía schwieg eine Weile nachdenklich.
»Es muss furchtbar schwierig für Sunee sein«, sagte sie schließlich.
»Ja natürlich, enorm schwierig«, stimmte Elínborg ihr zu. »Sie war immer sehr besorgt um ihre Jungen«, sagte die Lehrerin und deutete auf die Zeichnung. »Ich habe beide unterrichtet, auch Niran, Elías’ Bruder. Er sprach sehr schlecht Isländisch. Soweit ich weiß, haben sie meist Thailändisch zu Hause gesprochen. Ich habe Sunee gegenüber erwähnt, dass daraus Probleme für die Jungen entstehen könnten. Sie spricht ja selber nicht viel Isländisch, und sie fand es besser, eine Dolmetscherin dabeizuhaben, wenn sie zu den Elternversammlungen kam.«
»Den Vater, hast du den seinerzeit kennengelernt?«, fragte Elínborg.
»Nein, überhaupt nicht. Er ist nie zu irgendwelchen Veranstaltungen gekommen, weder zur Weihnachtsfeier noch sonst irgendwann. Bei Elternabenden ist er nie erschienen, sie kam immer allein.«
»Es könnte sein, dass Elías mit dem Umzug in ein anderes Viertel und der neuen Schule Probleme hatte«, sagte Elínborg. »Es ist keineswegs sicher, dass er sich wirklich in der neuen Schule eingelebt hat. Er besaß noch keine Freunde und war sehr viel allein mit sich.«
»Das will ich gern glauben«, sagte Emilía. »Ich kann mich gut erinnern, wie es war, als er hier in der Schule anfing. Er klammerte sich an seine Mutter, und der Elternsprecher der Klasse und ich brauchten eine ganze Zeit, bis wir ihn dazu gebracht hatten, sich zu beruhigen und zu begreifen, dass alles in Ordnung war, auch wenn Sunee wegging.«
»Und Niran?«
»Die Brüder sind ganz und gar verschieden«, sagte Emilía. »Niran ist hart im Nehmen, der kommt überall durch. Er ist alles andere als ein schüchterner Junge.«
»Kamen sie gut miteinander aus?«
»Ich hatte den Eindruck, dass Niran sich liebevoll um seinen kleinen Bruder kümmerte, und Elías hat Niran vergöttert. Es hat so viele Zeichnungen von ihm gemacht. Die beiden unterschieden sich aber vor allem darin, dass Elías sich anpassen, sich in die Klasse einfügen wollte, während Niran rebellischer war. Er war gegen die Klasse, gegen die Lehrer, die Schulleitung, die älteren Schüler. Es gab hier eine Gruppe von fünf oder sechs Einwandererkindern, mit denen Niran den meisten Umgang hatte. Sie hielten sich abseits und kümmerten sich kaum um den Unterrichtsstoff, denn sie hatten nicht das geringste Interesse beispielsweise an der isländischen Geschichte oder dergleichen. Einmal kam es auch zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen und einigen isländischen Kindern. Aber nicht während der Schulzeit. Das war irgendwann
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