Frostnacht
einreiste, sie checkten die Autoverleihfirmen und die Hotels in Reykjavík und Umgebung. Unter anderem hatte man sich auch mit der Polizei in Bangkok in Verbindung gesetzt und Erkundigungen eingezogen, ob Sunees Angehörige aus-oder eingereist waren. Bei der Polizei gingen täglich zahlreiche Hinweise ein, denen allen nachgegangen wurde, gleichgültig, wie zeitraubend das war. Die Leute meldeten sich telefonisch, wenn sie Nachrichten gehört oder Zeitung gelesen hatten, und waren davon überzeugt, etwas beitragen zu können. Manche Hinweise waren allerdings vollkommen abwegig – Betrunkene, die sich für so genial hielten, den Fall kraft ihrer Intelligenz gelöst und den Täter gefunden zu haben. Sie wiesen namentlich auf Anverwandte oder Intimfeinde hin, die sie als »Pack« bezeichneten. Allem wurde nachgegangen.
Erlendur wusste, dass nicht viele Personen bei der Polizei geführt wurden, die als gefährlich oder in Sachen Ausländerfeindlichkeit als zu allem fähig eingestuft waren. Den einen oder anderen Gewaltverbrecher hatte man festgenommen, manchmal in seiner Wohnung; bei der Gelegenheit wurden diverse Schusswaffen, Knüppel, Messer und Schlagringe entdeckt, und bei einigen fand man rechtsradikales Propagandamaterial, das teilweise aus dem Internet stammte, aber auch Broschüren, Bücher und fotokopiertes Material, Fahnen und andere Objekte mit ausländerfeindlichen Inhalten. Ein organisiertes Verteilernetz für solche Hetzkampagnen existierte nicht, und nur wenige hatten direkt wegen Ausländerfeindlichkeit mit der Polizei zu tun gehabt. Bei den Beschwerden über rassistische Anfeindungen handelte es sich zumeist um zufällige und individuelle Fälle.
Erlendur wühlte in einer ganzen Reihe von Kästen. In einem fand er eine ordentlich zusammengefaltete Südstaatenflagge und eine Fahne mit einem Hakenkreuz, außerdem ein paar Broschüren auf Englisch, in denen es, den Titeln nach zu urteilen, darum ging, dass der Holocaust ein zionistisches Lügengespinst sei. Auch Informationsmaterial über Rassen mit Fotos von afrikanischen Stämmen waren dabei. Erlendur förderte Hetzpropaganda aus amerikanischen und englischen Zeitschriften zutage und schließlich das Protokollbuch einer Vereinigung, die sich »Väter Islands« nannte.
Das Heft enthielt die Protokolle einiger Versammlungen aus dem Jahre 1990, bei denen unter anderem über Hitlers Leistung beim Aufbau Deutschlands nach der Weimarer Republik die Rede war. An einer Stelle gab es eine Eintragung über die ausländischen Zuwanderer in Island, die als Problem bezeichnet wurden. Man hatte darüber diskutiert, den weiteren Zustrom zu unterbinden, da bei fortgesetzter Rassenmischung die Gefahr bestünde, dass die Isländer als nordische Rasse im Lauf der nächsten hundert Jahre ausstürben. Es ging auch um die Frage, auf welche Weise man das verhindern könne, ob man eine Verschärfung der Gesetze fordern oder sogar das Land völlig dicht machen solle, gleichgültig, ob die Ausländer wegen der Arbeit kamen, aus familiären Gründen oder als Asylsuchende. Die Eintragungen hörten so abrupt auf, dass es ganz den Anschein hatte, als sei die Vereinsarbeit plötzlich zum Erliegen gekommen. Erlendur stellte fest, dass es sich um eine schöne Schrift handelte, der Stil war knapp und präzise und ohne überflüssige Schnörkel.
Ein Mitgliederverzeichnis war nicht dabei, aber ein Protokoll war mit einem Namen unterzeichnet, der Erlendur bekannt vorkam. Während er noch dasaß und überlegte, in welchem Zusammenhang er den Namen schon gehört hatte, begann sein Handy zu klingeln. Er erkannte die Stimme sofort.
»Ich weiß, ich darf nicht anrufen, aber ich weiß nicht, was …«
Die Frau begann zu schluchzen.
»… ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Komm und sprich mit mir«, sagte Erlendur.
»Das kann ich nicht. Ich kann es einfach nicht. Es ist so furchtbar, wie …«
»Was?«, fragte Erlendur.
»Ich möchte ja gerne«, sagte die Stimme. »Ich will es tun, aber es ist nicht möglich.«
»Wo bist du jetzt?«
»Ich …«
Die Frau führte den Satz nicht zu Ende, und es herrschte Schweigen in der Leitung.
»Ich kann dir helfen«, sagte Erlendur. »Sag mir, wo du bist, und ich helfe dir.«
»Das kann ich nicht«, sagte die Stimme. Erlendur hörte, dass die Frau angefangen hatte zu weinen. »Ich kann nicht … so leben …«
Wieder verstummte sie.
»Aber trotzdem rufst du an«, sagte Erlendur. »Du fühlst dich schlecht, sonst würdest du nicht anrufen.
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