Frozen Time (German Edition)
auf und schaue Milo an. Ganz leicht neige ich den Oberkörperund sehe, dass er mich anlächelt. Es ist nur eine winzige Bewegung seiner Mundwinkel, als wollte er nicht, dass ich es überhaupt bemerke, und es ist so schnell wieder verschwunden, dass ich mich frage, ob ich es mir nur eingebildet habe.
»Gut«, sagt Mitra. »Ich lasse euch dann erst mal allein. Aber bitte nicht vergessen: In fünfzehn Minuten beginnt das Gruppenmeeting. Milo wird dich begleiten«, fährt sie in meine Richtung fort. Dann geht sie und wir sind zu zweit.
Milo lehnt sich an die dunkle Glaswand und betrachtet mich weiter mit diesem forschenden Blick aus seinen dunklen Augen.
»Sicher möchtest du gern wissen, mit wem du es zu tun hast«, sagt er und streicht sich wieder mit der Hand durch die etwas zu langen Haare. Ihm selbst scheint diese Bewegung nicht bewusst zu sein, aber mich irritiert sie.
»Hm, ja«, antworte ich unbestimmt. Natürlich sollte mich das interessieren. Aber im Moment wüsste ich viel lieber, was er über
mich
weiß. Sicher hat er alle Informationen über mich gelesen. Ob es etwas gibt, was die Medis mir noch nicht erzählt haben? Die Doppeldeutigkeit seiner Frage wird mir bewusst. Mit wem du es zu tun hast … Damit könnte er genauso gut mich meinen, denn ich kenne mich selbst fast ebenso wenig wie den Fremden, der da vor mir sitzt.
»Das Wichtigste hat Mitra dir ja gerade schon berichtet«, fährt Milo unbeirrt von meiner knappen Antwort fort. »Ich bin achtzehn Jahre alt und Mitglied im medizinischen Eliteprogramm der verehrten Regierung. Ich weiß diese Ehre zu schätzen und arbeite hart dafür. Meine Ergebnisse waren bisher immer erstklassig, und ich werde alles dafür tun, dass das so bleibt. Da dein Fall mir als Prüfungsfall für den diesjährigen Jahresabschluss zugeteiltwurde, kannst du dir also sicher sein, dass er mir sehr wichtig ist und ich mein Möglichstes tun werde, um unsere Arbeit zu einem Erfolg zu machen.«
Ich weiß, dass ich beruhigt sein sollte, weil er offenbar ein besonders guter und engagierter Schüler ist und weil ihm dieser Fall wichtig ist. Trotzdem fühlt es sich falsch an, wenn er von mir als
Fall
spricht.
»Okay.« Ich versuche, mir meine widerstreitenden Gefühle nicht anmerken zu lassen. »Und wie geht es jetzt weiter?«
»Wir werden ab sofort viel Zeit miteinander verbringen«, erklärt Milo. »Ich bin angehalten, mit dir alle erprobten Formen des Gedächtnistrainings durchzuführen. Ich habe mich in die aktuelle Fachliteratur zu dieser Thematik eingearbeitet und wie gesagt ein Spezialtraining absolviert. Die verschiedenen Formen der Amnesie treten heutzutage durch die fortgeschrittenen Behandlungsmethoden diverser Krankheiten nur noch sehr selten auf. Die Medis haben bisher versucht, deine retrograde Amnesie medikamentös aufzuheben, wir werden nun vor allem durch assoziatives Denken und das Einbeziehen virtueller sowie realer Erinnerungselemente daran arbeiten.«
»Okay«, sage ich wieder und er sieht mich mit leicht zusammengekniffenen Augen skeptisch an. Doch wenn Milo glaubt, ich könnte seinen Ausführungen nicht folgen, irrt er sich. Zu meiner eigenen Überraschung verstehe ich nicht nur alles, was er sagt, sondern es ergibt auch Sinn.
Es ist beruhigend und frustrierend zugleich, wie er meine verlorenen Erinnerungen als rein medizinisches Problem betrachtet. Beruhigend, weil es dadurch lösbarer wirkt. Aber frustrierend, weil er mich selbst gar nicht wahrzunehmen scheint.
»Gut«, sagt Milo, wieder fährt seine Hand durch die Haare. »Eines möchte ich noch klarstellen, bevor wir zum Gruppenmeeting aufbrechen: Ich werde meine ganze Energie in dieses Projekt investieren, da ich weiß, dass es für meine Karriere als sehr wichtig angesehen wird. Ich denke, dass es selbstverständlich ist, dass auch du dich maximal einbringst.«
Er steht auf und wendet sich zur Schiebetür im dunklen Glas.
Ich muss eine spitze Bemerkung unterdrücken. Natürlich ist es selbstverständlich, dass ich mich maximal in
dieses Projekt
einbringen werde. Allerdings nicht, weil Milos Erfolg im Elitekurs davon abhängt – sondern weil es sich um meine eigene Erinnerung handelt, von der er redet!
»Wollen wir dann?«, fragt Milo, als er bemerkt, dass ich ihm nicht sofort folge.
Ich atme tief durch und sehe mich in meinem kleinen Zimmer um. Meine Empörung über Milos Worte verschwindet, wieder überrollen mich negative Emotionen: Unsicherheit, Angst, ja, Panik. Zum ersten Mal seit meinem
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