Frozen Time (German Edition)
bequem dieses Luftbett auch ist, ich finde dennoch keine Position, in der ich es aushalte. Gedanken rasen durch meinen Kopf. Endlich tut sich etwas, denke ich hoffnungsvoll. Gleichzeitig spüre ich Angst, weil ich nicht weiß, was mich erwartet, wenn ich mich erinnere, und weil ich nicht einmal weiß, ob ich mich überhaupt erinnern werde.
Du darfst keine Angst haben!
Die Stimme ist wieder da, aber ich schiebe sie mit einer unwirschen Bewegung einfach weg. Ich weiß, dass ich mich mehr bemühen sollte, meine Gefühle, vor allem negative Gefühle wie Angst, Wut oder Ungeduld, unter Kontrolle zu bringen. So schreibt es die sechste Grundregel unserer Gesellschaft vor, denn negative Gefühle sind schlecht für das seelische Wohlergehen. Trotzdem gelingt es mir nicht, gegen diese starken Emotionen anzukämpfen.
Meine Augen wandern zur Tür und wieder zurück zu den wippenden Baumwipfeln, dann wieder zur Tür. Ich rutsche vom Bett und gehe einige langsame Schritte auf und ab. Vor der schwarzen Glaswand mit der verborgenen Schiebetür bleibe ich stehen.
Verschwommen erkenne ich in dem verspiegelten Glas mein Gesicht. Augen starren mich übergroß an, der Mund wirkt wie ein gerader Strich, so fest presse ich die Lippen aufeinander. Vorsichtig fahre ich mit dem Finger über die Umrisse auf der Scheibe. Mein kahler Schädel fühlt sich auf dem Glas kalt und glatt an. Ich weiß, dass in Wirklichkeit bereits ein feiner Flaum darauf wächst, den meine Finger immer wieder wie von selbst erforschen. Die kleinen Knöpfe in meiner Haut kann ich im unscharfen Spiegelbild nicht erkennen, aber sie sind noch da. Ich habe vergessen, Mitra zu fragen, warum sie die Elektroden nicht längst entfernt haben.
Obgleich die Scheibe schwarz ist, habe ich plötzlich das unbestimmte Gefühl, dass jemand mich durch das Glas anstarrt. Im selben Augenblick gleitet die Zimmertür lautlos zur Seite.
Mitra kommt herein, dicht gefolgt von einem jungen Mann in einem blauen Kittel. Er ist einen guten Kopf größer als die Medi und hat braunes Haar, das ihm über die Stirn bis in die Augen fällt. Mit einer schnellen Handbewegung schiebt er die Haare zur Seite und mustert mich dann so aufmerksam aus dunklen, unergründlichen Augen, dass es mir sofort unangenehm ist. Ich muss den Blick abwenden.
»Tessa, das ist Milo.« Mitra deutet auf den jungen Mann. Er macht einen Schritt auf mich zu und neigt fast unmerklich den Oberkörper. Es ist die höfliche Begrüßung, die jeder junge Mensch einem älteren zollt, jeder Unterstellte einem anderen von höherem Status, sie kann aber auch einfach Respekt vor dem Gegenüber zum Ausdruck bringen. Niemand muss mir erklären, was diese Geste bedeutet, wie so vieles weiß ich es einfach, doch mir erscheint sie in diesem Augenblick unerklärlich unpassend.Anstatt die Verbeugung zu erwidern, wie es üblich wäre, weiche ich zurück, bis ich mit den Beinen an die Bettkante stoße, und lehne mich dagegen, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Ist er nicht ein bisschen jung für eine so komplizierte Aufgabe?«, frage ich Mitra herausfordernd. Ihre Augen werden schmaler, und mir ist klar, dass meine Bemerkung unverschämt klingen muss. Immerhin hat sie Milo für diese Aufgabe ausgewählt – und außerdem bin ich selbst nicht älter als er, eher jünger. Ich hatte nur damit gerechnet, dass sie mir einen erfahreneren Medi zur Seite stellen würde, um mir dabei zu helfen, meine Erinnerungen wiederzuerlangen.
»Milo hat gerade das zweite Jahr seiner Ausbildung abgeschlossen, mit herausragenden Ergebnissen«, stellt Mitra streng klar. »Dank seiner Leistungen ist er bereits Teilnehmer im medizinischen Eliteprogramm unserer verehrten Regierung, er hat in den vergangenen Tagen ein Spezialtraining im Bereich Gedächtnisrehabilitation absolviert. Und außerdem gehen wir davon aus, dass es dir bei der Wiedererlangung deines Erinnerungsvermögens helfen kann, mit einem jungen Mann deines Alters daran zu arbeiten, der dir sicher bei vielen Fragen ein geeigneterer Ansprechpartner sein wird als ein Senior-Medi.«
Ich schlucke und fühle mich zurechtgewiesen. Zu Recht. Es gehört sich einfach nicht, die Entscheidung einer Senior infrage zu stellen. Schon wieder verhalte ich mich anders, als die Regeln unserer Gesellschaft es verlangen. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist, doch jetzt reiße ich mich zusammen.
»Du musst gute Spender gehabt haben«, bemühe ich mich um ein Kompliment, setze einen freundlicheren Gesichtsausdruck
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