Frozen Time (German Edition)

reißt. Vor mir dreht sich das Staatensymbol – die verschlungenen Ringe der Gemeinschaft, durch die sich die Schlange des Äskulap windet. Es ist dreizehn Uhr, Zeit für die News. Die Dokumentation hat automatisch gestoppt, damit ich mir die Nachrichtenübertragung ansehen kann. Bisher scheint diese Funktion an meinem Holovision ausgeschaltet gewesen zu sein.
    Eine Frau mit strahlend weißem Lächeln erscheint im Holo, so nah vor meinem Gesicht, dass ich das Gefühl habe, sie berühren zu können. Ich weiß sofort, wer sie ist, denn sie spricht immer die Nachrichtensendungen, die dreimal pro Tag auf alle SmartSets und Monitore in den Metropolen übertragen werden.
    »Bürger der Vereinigten Europäischen Nationen, wie geht es euch?« Das Lächeln wird noch eine Spur breiter. »Unsere verehrte Präsidentin Samantha Figger hat heute Morgen die Namen der zehn Mitbürger bekannt gegeben, die in diesem Jahr dadurch geehrt werden, dass sie in
Projekt Frozen Time
aufgenommen werden.«
    Sie verliest eine Liste mit Namen, die zeitgleich neben ihr erscheinen, doch mein Blick gleitet von ihrem strahlenden Lächeln hinunter an den Rand des Holos, zu einer dünnen Leiste, auf der acht Zahlen zu sehen sind: 23.   06.   2100.   Ich erinnere mich, dass mich Mitra bei unserem ersten Gespräch nach dem Datum gefragt hat und dass ich die Antwort nicht kannte. Jetzt weiß ich es. Wir haben den dreiundzwanzigsten Juni im Jahr 2100.   Die Zahlen stehen unverrückbar vor mir in der Luft, trotzdem fühlt sich etwas daran falsch an.
    »Wie in jedem Jahr hat eine Jury aus Mitgliedern der Regierung die Bürger ermittelt, die sich diese besondere Ehre durchihr Handeln für die Gesellschaft verdient haben«, holt die Stimme der Sprecherin mich zurück. »Sie alle haben das Höchstalter bereits erreicht, doch nun werden ihre Körper in Kryoboxen gekühlt und damit für einen Zeitpunkt konserviert, an dem die fortgeschrittenen medizinischen Möglichkeiten es erlauben werden, ihre Lebensspanne weiter zu verlängern.«
    Die verehrte Präsidentin kommt ins Bild. Sie ist groß und schlank, hat glänzende silbergraue Haare, ein perfekt geglättetes Gesicht und ihr Körper scheint vor positiver Energie zu federn. Dass sie bereits 125   Jahre alt ist, sieht man ihr nicht an. Im selben Moment, in dem die Präsidentin im Holo erscheint, erfüllt ein angenehmer Vanilleduft den Raum. Ich atme ihn tief ein und werde ebenfalls von positiver Stimmung durchströmt.
    »Gesundheit, Glück und langes Leben. Das sind die drei Grundpfeiler unserer Gemeinschaft«, erklärt die verehrte Präsidentin. »Mit
Frozen Time
öffnen wir jedes Jahr für besonders verdiente Bürger ein Fenster in die Zukunft. Und jeder, ich betone, jeder Bürger in den VEN hat die Chance auf die Ehre, einen Platz in
Projekt Frozen Time
zu erhalten.« Die verehrte Präsidentin macht eine kleine Pause in ihrer Ansprache, um ihre Worte wirken zu lassen, sie ist eine überzeugende Rednerin.
    »Wie ihr alle wisst«, fährt sie fort, »liegen die Anfänge von
Projekt Frozen Time
in den ersten Jahren unserer Gesellschaft. Zu dieser harten Zeit war es nicht möglich, jedem Bürger die medizinische Hilfe zukommen zu lassen, die er oder sie benötigte. Doch dank der bereits weitgehend ausgereiften Methoden der Kryonik konnten die Körper der Betroffenen vor über sechzig Jahren gekühlt und konserviert werden für eine Zeit, in der es möglich sein würde, sie zu erwecken und zu heilen.« Wiedermacht Samantha Figger eine Pause. Ein Vertrauen einflößendes Lächeln liegt um ihre Lippen, ihre Augen strahlen Verantwortungsbewusstsein aus.
    »Schon bald wurde die Aufnahme in
Projekt Frozen Time
zu der hohen Auszeichnung für besondere Leistungen, die uns allen ein Ansporn ist. Mehreren Hundert unserer Mitbürger wurde diese Ehre in den vergangenen Jahrzehnten zuteil, ihre Körper wurden kryonisch konserviert und überdauern so die Zeit mit der Aussicht auf ein längeres Leben. Schon nächstes Jahr kann es ein jeder von euch sein, der ausgewählt wird!«
    Das Bild der Präsidentin verschwindet, das Gemeinschaftslied ertönt, die Übertragung der Dokumentation endet. Der Schmerz kehrt pochend in meine Schläfen zurück, und ich spüre, dass da etwas in meinem Kopf ist, das darauf drängt, in mein Bewusstsein vorzustoßen. Es ist etwas Wichtiges. Aber ich kann mich einfach nicht daran erinnern, was es ist.
    »Ich möchte gerne mit dir über deine weitere Behandlung sprechen.« Mitra fährt den Hocker