Frozen Time (German Edition)
zu erinnern«, hat Mitra mir erklärt.
Deshalb stehen wir nun hier, vor dem MediCenter, und ich atme zum ersten Mal wieder ungefilterte Luft. Es ist warm, die Sonne scheint mit ihrer vollen Kraft auf die Parabolspiegel auf den Häusern, und ihre gebündelten Strahlen überdecken die Metropole mit der geschlossenen Lichtkuppel, die mir aus den Holoübertragungen vertraut ist. Aus unserer Häuserschlucht heraus kann ich freilich nur einen schmalen Streifen des leuchtenden Himmels sehen, der einen eingeschränkten Eindruck des imposanten Gesamtbildes erahnen lässt.
»Tessa?«
»Ja?« Milos Anwesenheit wird mir wieder bewusst.
»Was möchtest du machen?«
»Ich weiß nicht«, gebe ich zu. Ich kann mich nicht erinnern, was ich früher in meiner freien Zeit gemacht habe. Sicher bin ich ins FreizeitCenter gegangen, zur Fitness, zum Spielen oder zum Shoppen oder um mich mit Freunden zu treffen …
Hatte ich eigentlich Freunde? Vor meiner Krankheit. Aber natürlich, beruhige ich mich selbst. Jeder hat Freunde. Ich kann mich nur nicht an sie erinnern.
Unsicher schaue ich an mir selbst hinunter. Zum ersten Mal, seit ich aufgewacht bin, trage ich nicht die einheitliche Patientenkleidung, sondern durfte mir ein neues Outfit am Nano-Converter bestellen. Ich habe mich für eine schmale Hose aus weichem, blauem Stoff entschieden, dazu trage ich eine weiße Bluse. Es sind die typischen Juniorfarben, und es handelt sich um eine der beliebtesten Kombinationen aus der aktuellen Junior-Kollektion, was mit ein Grund war, warum ich es genommen habe. Ich wusste einfach nicht, was ich aussuchen sollte. Trotzdem komme ich mir nun verkleidet vor. Mit meiner linken Hand streiche ich vorsichtig über meinen Kopf. Ich habe eine Perücke aufgesetzt, um mit meinem kahlen Schädel nicht aufzufallen. Schulterlange, blonde Haare, so wie meine eigenen.
»Tessa?«, hakt Milo etwas ungeduldig nach.
»Einen Spaziergang«, schlage ich vor, es klingt wie eine Frage.
»Eine gute Idee«, stimmt Milo zu, aber er wirkt nicht gerade begeistert. Obwohl Spaziergänge an der frischen Luft zum ausgewogenen Bewegungsprogramm gehören, sind sie bei vielen Juniors nicht sonderlich beliebt. Wahrscheinlich geht Milo für sein tägliches Sportprogramm lieber ins FitnessCenter.
Wir halten uns im Schatten der breiten Baumkronen, um die direkte Sonne zu vermeiden, auch wenn der Stoff unserer SmartClothes uns natürlich vor der gefährlichen U V-Strahlung schützt. Aber es ist so heiß heute, dass die Temperaturfunktion meiner Kleidung nur mäßig gut zu arbeiten scheint.
Außer uns sind sehr wenige Menschen auf der Straße unterwegs. Zwei Officer in ihren grauen Uniformen mit den weithin sichtbaren silbernen Streifen am Arm und auf den Schultern fahren auf ihren Segways an uns vorbei und legen grüßend eineHand an die Schirme ihrer Kappen. Eine junge Frau kommt uns entgegen und spricht halblaut in ihr SmartSet; ich drehe mich nach ihr um und sehe, dass sie im Eingang des MediCenters verschwindet. Vermutlich sind die meisten Bürger um diese Tageszeit bei der Arbeit, denke ich und fühle mich unnütz, weil ich selbst nicht im LernCenter sitze, wie es meine eigentliche Aufgabe wäre.
»Du gehst also gern spazieren?«, unterbricht Milo einmal mehr meine Gedanken.
»Hm, ich weiß nicht«, erwidere ich. Gehe ich wirklich gerne spazieren, oder war das nur ein spontaner Einfall, um überhaupt etwas zu sagen?
»Was machst du denn gern?«, gebe ich die Frage an ihn zurück. Obwohl wir uns täglich viele Stunden gesehen haben, weiß ich noch immer kaum etwas über Milo, denn natürlich geht es fast die ganze Zeit nur um mich, wenn wir uns unterhalten, wenn wir zahllose Spiele spielen, die das Gedächtnis anregen sollen, wenn wir entspannende Musik hören oder uns die immer gleichen Holos anschauen. Milo wirkt dabei stets voll auf unser
Projekt
konzentriert, gleichzeitig aber verschlossen.
Ich betrachte Milo von der Seite, während wir langsam weitergehen. Er ist gut einen Kopf größer als ich und trägt zu einer gerade geschnittenen dunkelblauen Hose ein enges weißes Shirt. Es ist das erste Mal, dass ich ihn ohne den blauen Kittel sehe, und ich habe den Eindruck, dass er viel trainiert, denn er wirkt muskulös. Das SmartSet hinter seinem rechten Ohr wird von seinen dunkelbraunen Haaren halb verdeckt, trotzdem erkenne ich, dass es sich um das allerneueste Modell handelt.
»Du meinst, außer meiner Ausbildung?«
Natürlich! Er ist ein Musterschüler in jeder
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