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Frozen Time (German Edition)

Frozen Time (German Edition)

Titel: Frozen Time (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Lankers
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die Erschöpfung, die dieser Tag und die Suche nach meinen Erinnerungen bei mir hinterlassen haben.
    »Dein Körper wird schwer.«
    Ja, mein ganzer Körper fühlt sich schwer an. Ausgelaugt und erschöpft, die Arme hängen schlaff herab, mein Oberkörper sackt zusammen, mein Kopf wird so schwer, dass ich ihn kaum noch aufrecht halten kann. Selbst meine Augen fühlen sich schwer an, die Lider drohen zuzufallen.
    »Und jetzt erinnere dich«, sagt Milo leise, aber eindringlich. »Was ist deine stärkste Erinnerung?«
    Finn
. Ich muss an Finn denken. Finn ist der Schlüssel zu all meinen Erinnerungen. Nun schließe ich meine Augen und sehe sein liebes Gesicht, sein Lachen, seine blonden Haare, die in der Sonne einen leuchtenden Kranz um seinen Kopf zu legenscheinen. Sein Gesicht ist bleich. Seine Hand an meiner Wange. Seine Lippen auf meinen. Sofort ist da wieder dieses Gefühl, dass wir zueinandergehören. Aber ebenso schnell stellt sich das zweite mir inzwischen so bekannte Gefühl ein: dass ich schuldig bin. Schuld an dem, was mit Finn passiert ist.
    Aber was ist mit Finn passiert?
    Was?
    Was?
    WAS?
    Vorbei. Ich bin wieder wach. Völlig klar.
    »Das geht so nicht«, sage ich entschieden und sehe Milo die Augen nach oben verdrehen.
    »Nicht so eilig, Tessa«, mahnt er. »Du musst schon etwas mehr Geduld haben.«
    »Geduld ist eben nicht meine Stärke«, gebe ich gereizt zurück. Ich kann mir selbst nicht erklären, warum ich plötzlich so genervt bin. Milo hat nur versucht, mir zu helfen. Wir wussten beide, dass es ein wenig erfolgversprechendes Experiment war. Aber jetzt fühle ich mich nicht nur erschöpft, sondern auch schuldig, so sehr, dass es mir beinahe körperlich wehtut. Und allein. So allein wie noch nie in meinem Leben, zumindest in dem Leben, an das ich mich erinnern kann. Was für ein krankes Experiment, denke ich wütend und sage es auch laut. »Was für ein krankes Experiment!«
    »Psst«, macht Milo und legt den Zeigefinger, mit dem er eben noch in der Luft herumgewedelt hat, an seine Lippen, um mich zum Schweigen zu bringen. Da werde ich richtig wütend.
    »Ich will nicht mehr. Ich will mich nicht mehr erinnern müssen«, platze ich heraus, mir ist es egal, ob ich jemanden mitmeiner lauten Stimme wecke. »Die Erinnerungen, die ich habe, machen mich genauso fertig wie die, die ich nicht habe. Ich habe keine Lust mehr.«
    Milo schaut mich stumm und mit einem verständnisvollen Lächeln an, und das macht mich noch wütender. So wütend, dass ich spüre, wie sich ein dicker, fester Knoten in meiner Brust bildet, hoch in den Hals rutscht und dort stecken bleibt, sodass kein Wort mehr daran vorbeipasst. Hilflos spüre ich, wie mir Tränen in die Augen steigen. Alle diese Emotionen sind so stark. Ich kann sie nicht mehr unterdrücken. Ich habe noch nie so viel empfunden wie gerade in diesem Moment. Ob das daran liegt, dass ich seit Tagen keine Medikamente nehme und nur noch das Wasser aus dem Kanal trinke, frage ich mich, oder sind meine Gefühle selbst einfach so heftig, dass ich sie nicht im Zaum halten kann? Mit dem Handballen wische ich mir kräftig über die Augen, damit Milo meine Tränen nicht sieht.
    Da steht er auf, kommt zu mir und lässt sich neben mich auf die Matratze sinken. Ich spüre seinen Arm um meine Schulter. Spüre seine Hand, die über meinen Kopf streicht. Hin und her. Beruhigend, tröstend. Ich lasse seine Berührung zu. Lehne mich in seinen Arm, suche Halt.
    »Du bist manchmal ganz schön stachelig«, flüstert Milo leise an meinem Ohr, wieder streicht seine Hand über meinen Kopf, bürstet meine stoppeligen Haare gegen den Strich, und ich weiß nicht, ob er auf meine Frisur anspielt oder auf meine Stimmung, aber ich lehne mich noch ein bisschen fester gegen ihn, weil sich seine Umarmung so stark anfühlt und seine Stimme so warm.
    »Wie dieses Tier, von dem du erzählt hast«, redet er weiter mit seiner tiefen, beruhigenden Stimme. »Dieser Igel.« Er lachtganz leise, dann sagt er: »Ich weiß, wie ich dich künftig nennen werde: Igelchen.«
    Und bei diesem Wort bricht die Wand in meinem Inneren in sich zusammen.
    Igelchen.
    Das Gesicht im Spiegel.
    Ich.
    Die Stimme hinter mir.
    Mein Vater.
    Igelchen.
    Weil du manchmal so stachelig bist.
    Ein kaltes Gefühl in meiner Hand.
    Winzige Stiche.
    Eine Kette.
    Ein Medaillon.
    Igelchen.
    Darin ein Foto.
    Meine Familie.
    Papa.
    Mama.
    Meine Brüder.
    Krank.
    Alle.
    Tot.
    Finn.
    Ich habe nur noch Finn.
    Und die Erinnerung.
    Die Kette, das

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