Frozen Time (German Edition)
Foto, das Igelchen.
»Ich weiß es wieder«, stoße ich hervor. »Ich kann mich erinnern.«
Ich bin mir nicht sicher, ob Milo mich verstanden hat, denn mir laufen die Tränen aus den Augen, als hätte die eingestürzte Wand in mir eine Schleuse geöffnet. Das Wasser spült die Erinnerungen herein, reißt die Türen auf, öffnet mir den Zugang zu jedem verschlossenen Raum im Labyrinth meiner Gedanken. Ich habe Angst, die Welle könnte mich mit sich fortreißen, so stark ist die Flut meiner Erinnerungen, so kraftvoll und zerstörerisch zugleich der Strom des Wiederentdeckten.
Ich klammere mich an Milos Ärmel, um nicht davongespült zu werden, spüre noch immer seinen Arm, der mich hält. Er fragt nicht nach, und ich bin froh, dass er mich nicht hetzt. Ich rücke ein Stück zur Seite, kann die Nähe plötzlich nicht mehr ertragen, muss allein sein mit den Bildern in meinem Kopf. Dann, Stück für Stück, brechen sie heraus, nehmen in gestammelten Worten Form und Gestalt an, werden Wirklichkeit.
»Es waren die Pocken«, erzähle ich Milo. »Das mutierte Virus, das damals die Große Epidemie ausgelöst hat. Finn war einer der Letzten, die sich infiziert haben. Als sie es bei medizinischen Tests herausfanden, haben sie ihm angeboten, ihn in das gerade erst gegründete
Projekt Frozen Time
aufzunehmen. Sie haben seinen Körper gekühlt, um ihn heilen zu können, wenn die medizinischen Möglichkeiten weit genug fortgeschritten sind.« Ich muss kräftig schlucken, der feste Knoten in meinem Hals macht es mir fast unmöglich weiterzusprechen.
»Ich war schuld«, bringe ich schließlich gepresst heraus. »Schuld daran, dass Finn sich infiziert hat. Ohne mich wäre er nie in die Seuchensperrzone zurückgekehrt. Aber ich wollte unbedingtnoch einmal in unser Haus. Wegen der Kette. Wegen des Anhängers mit dem Foto. Dem Foto von meiner Familie.«
Wieder laufen die Tränen, ich habe es aufgegeben, sie wegzuwischen, lasse sie über meine Wangen strömen und von meinem gesenkten Kinn in meinen Schoß tropfen.
»Dann stimmt es«, sagt Milo langsam begreifend. »Es stimmt wirklich. Dieser Junge, von dem du geträumt hast, dieser Finn, wurde gekühlt und konserviert?«
Ich nicke und starre auf die Matratze, während weitere Erinnerungsfetzen auf mich einprasseln. »Ja«, sage ich. »Finn hat bei
Projekt Frozen Time
mitgemacht, er ist ein
Frozen
.«
Milo nickt ebenfalls, nachdenklich, dann fragt er: »Und du, Tessa, warst du auch eine
Frozen
? Stimmt es, was du dir überlegt hast, dass du auch krank warst, dass dein Körper ebenfalls gekühlt und jetzt erweckt wurde?«
Ich will ihm antworten, will erneut nicken, aber ich kann nicht. Noch mehr Erinnerungen schwirren durch meinen Kopf. Bilder, Szenen, Gefühle, Gedanken. Sie alle gehören mir. Und fühlen sich doch unendlich fremd an! Erinnerungen an ein Leben!
»Tessa, erzähl es mir«, drängt Milo.
»Ich wurde in einer Zeit geboren, in der es noch Familien gab«, beginne ich stockend von vorn. »Meine Eltern waren Ärzte, meine zwei Brüder waren deutlich älter als ich. Finn war ein Junge aus der Nachbarschaft, mein allerbester Freund, seit ich mich erinnern kann. Als wir fünfzehn waren, brach das Pockenvirus aus. Mein Vater und meine Mutter, die tagtäglich mit Kranken zu tun hatten, waren unter den Ersten, die sich infizierten und bald starben, meine Brüder ebenso. Ich wurde in eines der Auffanglagerfür Kinder gebracht, zusammen mit Finn. Wir hatten nur noch uns.«
Die veralteten Begriffe
– Familie, Vater, Mutter –
gehen mir wie selbstverständlich über die Lippen. Was muss Milo denken? Ich werfe einen Blick zu ihm, er lauscht meiner Erzählung mit unbewegtem Gesichtsausdruck. Als er meine fragenden Augen bemerkt, lächelt er mir fast unmerklich zu. Das gibt mir Kraft weiterzusprechen und die Worte fließen nach und nach immer schneller aus mir heraus.
»Es war keine leichte Zeit, aber die Mitarbeiter der Hilfsorganisation haben sich gut um uns gekümmert. Nur meine Familie fehlte mir so schrecklich. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, keinen von ihnen je wiederzusehen. Deshalb wollte ich unbedingt zurück in unser Haus, weil ich dort mein Igelmedaillon vergessen hatte, in dem ich ein Foto von meinen Eltern aufbewahrte. Es war verboten, weil das Haus im Sperrgebiet lag, aber Finn hat darauf bestanden, mit mir zusammen dorthin zu gehen. Wir haben die Kette gefunden und mitgenommen, aber bei dieser Aktion muss Finn sich mit dem Virus angesteckt haben.«
Wärme
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