Frucht der Sünde
Tontaubenschützen waren.
Lektion siebzehn: Wenn es um die Jagd geht, bleib dicht am Zaun und bete.
«Oh verdammt», sagte Lucy Devenish. «Jetzt geht’s los.» Dann lächelte sie kampflustig, denn es näherte sich der Organisator der Veranstaltung, Mr. Terrence –
nicht
Terry, bitte – Cassidy, in einem langen Tweedmantel mit Fischgrätmuster und einer russischen Pelzmütze. Seine Halbbrille vermittelte den Eindruck von Bildung.
«So. Sind alle da? Gut, sehr gut.» Mr. Cassidy baute sich unter einer Sturmlampe auf, die an einem Stab hing. «Aber wissen wir auch alle,
warum
wir hier sind?»
Wie ein Lehrer vor der Klasse. Onkel Ted zufolge, der vor langer Zeit als Erwachsener hierhergezogen war, bestand das Geheimnis, wenn man im Dorf akzeptiert werden wollte, darin, mindestens zwei Jahre lang nicht aufzufallen. Die Cassidys jedoch gehörten eindeutig nicht zu den Leuten, die sich gerne unauffällig verhielten. Während ihr Ehemann die armen primitiven Bauerntölpel über die Bedeutung ihrer Traditionen belehrte, arrangierte Mrs. Caroline Cassidy in einem alpentauglichen Ski-Ensemble auf einem Picknicktisch Plastik-Bierbecher um ein reifüberzogenes Cider-Fässchen herum. Dabei warf sie gelegentlich einen Blick auf Miss Devenish, von der Ärger zu erwarten war.
Zwischen den alten Bäumen hinter sich sah Merrily die Lichter des Dorfes hindurchschimmern: Gelb, bernsteinfarben und rötlich drang der Schein durch geschlossene Vorhänge. Es wirkte sehr heimelig, doch zugleich merkwürdig weit entfernt. Bei Tag hätte man die Kirche hinter den kahlen Bäumen sehen können. Bei Nacht aber war der Obstgarten eine Welt für sich.
«… und deshalb, Leute, erwecken wir heute eine alte Sitte wieder zum Leben.»
Mr. Cassidy besaß eine hohe, nasale Stimme, es hörte sich an, als würde der Wind durch ein Abzugsrohr pfeifen. Er erinnerte daran, dass im Mai das erste Ledwardine-Festival starten würde: eine bunte Veranstaltungsreihe über den ganzen Sommer hinweg, mit Konzerten, Lesungen, Theater, Führungen und für das Publikum geöffneten Häusern und Gärten. All das eine großartige Demonstration «unseres Kulturerbes».
Lucy Devenish schnaubte wütend.
Mr. Cassidy erhob die Stimme. «Und weil der gute Cider unseres Dorfes dieses Erbe einst
verkörpert
hat, wollen wir die Produktion endlich wiederaufnehmen.»
Er legte eine Pause für überraschtes Gemurmel ein; es kam jedoch keins. Gar keine schlechte Idee, dachte Merrily, aber mehr als ein Werbegag würde daraus nicht werden. Der Cider-Handel in Herefordshire war in festen Händen, die meisten Obstbauern in der Region verkauften ihre Ernte an Produzenten wie Bulmers oder Dunkertons. Ohnehin waren die meisten Apfelplantagen des Umlandes während der großen Cider-Krise in der viktorianischen Zeit abgeholzt worden.
«Wir werden den hiesigen Cider natürlich unseren Restaurantgästen empfehlen, und auch im
Black Swan
wird bestimmt dafür geworben. Allerdings hängt die Produktion dieses ehrwürdigen Getränks davon ab, dass wir eine ausreichende Ernte der berühmten Roten Pharisäer erbringen können. Dieser Apfel, der jahrhundertelang in diesem Obstgarten, in dem wir jetzt stehen, von …»
Cassidy machte eine weitausholende Geste, Merrily musste an einen Varietédirektor denken.
«… der Familie Powell angebaut wurde.»
Alle starrten Garrod, Landwirt und Mitglied im Bezirksrat, und seinen Sohn Lloyd an. Und den Großvater – hieß er nicht Edgar? –, der sich mit seinen verkrümmten Gichtfingern ans Familiengewehrkrallte und den Blick unverwandt auf Merrily gerichtet hielt. Doch er nahm sie nicht wahr, da war sie sich sicher. Er war völlig abwesend, er war gar nicht da, der alte Edgar.
Alle anderen
wollten
bloß nicht da sein. Denn die ganze Sache war sinnlos, künstlich aufgeblasen und nur für die Presse gedacht, die es übrigens nicht für nötig gehalten hatte, überhaupt zu erscheinen. Außerdem war es
so … verdammt … kalt.
Merrily zog sich die Kapuze ihrer Pseudo-Barbourjacke über den Kopf. Das war nicht die richtige Einstellung. Sie sollte sich freundlich und herzlich geben. Sich unter die Leute mischen. Aber diese Nachahmung des Landlebens vergangener Zeiten, wie man es sich eben so vorstellte, diese «traditionelle» Zusammenkunft, an der sich hauptsächlich Zugezogene beteiligten, während die alteingesessenen Kleinbauern mit ein paar Dosen Bier und den Überresten eines Chicken Tandoori zu Hause vor dem
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