Frucht der Sünde
zog.
Merrily spürte feine Sprühnässe auf ihrem Gesicht. Vermutlich Eisstückchen, die von den Ästen abgesplittert waren, aber es fühlte sich warm an, als ob der arme alte Apfelbaum-Mann angefangen hätte zu weinen.
Als die Schüsse verhallt waren, schien mit einem Mal auch die ganze Spannung der Situation verpufft. Offenbar enthielt das Buch keine Anweisungen, was man danach tun sollte.
«Hrm … also, gut gemacht, Leute», sagte James Bull-Davies halbherzig.
Ein paar Dorfbewohner klatschten spärlichen Beifall. Caroline Cassidy kam hinter einem Baum hervor und fing an zu nörgeln: «Wir haben kein einziges Foto, oder? Und was die BBC angeht … Ich werde eine Beschwerde schreiben.»
Dann breitete sich auf der Lichtung Stille aus. Es war eine Stille, als würde ein Luftballon aufgeblasen, immer weiter, bis …
Der erstickte Schrei, der ganz in ihrer Nähe ertönte, war durchdringender als jeder Knall. Zugleich wurden Caroline Cassidys Züge teigig wie eine Clownsmaske aus Gummi, sie riss die Augen auf und rief: «Was ist das da in Ihrem
Gesicht
?»
Noch während sie den Schrei gehört hatte – er war von AlisonKinnersley gekommen –, hatte Merrily ihre Wange berührt und etwas Nasses gefühlt. Jetzt hob sie ihre Hand ins Licht. Ihre Finger waren rot verschmiert.
«Hören Sie, treten Sie zurück … zurücktreten …» James Bull-Davies’ Stimme klang, als wäre er ein Schuljunge im Stimmbruch.
«Verflucht nochmal», sagte Gomer Parry heiser.
Merrily sah dunkle Tropfen auf Garrod Powells Gesicht. Einen verschmierten Streifen um Lloyds Mund, als sei er mit einem Lippenstift ausgerutscht. Flecken auf Gomers Brillengläsern. Kleckse auf dem Ohrenwärmer seiner Frau, der wie ein Kopfhörer um ihren Hals hing.
Caroline Cassidy taumelte in ihren hohen Stiefeln ein paar Schritte zurück und gab ein hässliches schniefendes Geräusch von sich. Und erst jetzt sah Merrily das Allerschlimmste. Sie erstarrte vor Schreck.
Zwischen den beiden Powells, am Fuße des alten geplagten Baumes, lag etwas, das aussah wie eine Milchkanne in einem Mantel. Sie pumpte eine schwarze Flüssigkeit aus, schwarze Milch.
Eine kalte Eisenklammer schien sich um Merrilys Hals zu legen.
«Was ist denn los?» Terrence Cassidys kultivierte Stimme klang geradezu grotesk in dem geschockten Schweigen. «Was ist passiert? Meine Güte, wir wollten doch nur …»
Gomer Parry sah durch seine roten Brillengläser zu Cassidy auf und spuckte seine Zigarette aus. «Besser, jemand ruft die Polizei, schätze ich.»
Merrily hatte ein Taschentuch aus dem Mantel gezogen und wischte sich damit wie betäubt das Blut vom Gesicht. Sie konnte ihren Blick nicht von Edgars Mantelkragen abwenden und wusste, dass der größte Teil dessen, was einmal sein Kopf gewesen war, oben im Baum hängen musste; eine grellbunte vergessene Christbaumkugel zwischen den Zweigen, an denen der Frost glitzerte wie Lametta.
Sie knüllte ihr Taschentuch zusammen. Ihr Gesicht war immer noch feucht. Merrily fühlte sich wie bei einer Art grauenvoller Taufe.
Und während sie Miss Devenish flüstern hörte:
«Ich wusste es, ich wusste es
», wurde ihr klar, dass sie in den Baum hinaufsehen musste.
Teil eins
Können nicht geschlossene Augen noch in tiefster Nacht
Durch ihre Lider sehen und Erkenntnis finden?
Thomas Traherne,
Gedichte der Seligkeit
1 Das oberste Stockwerk
Merrily hatte einen wiederkehrenden Traum. Irgendwo hatte sie gelesen, dass ihr Traum ziemlich gewöhnlich und von unübersehbarer Symbolik war.
Wiederkehrend bedeutete alle paar Monate, vielleicht waren die Pausen inzwischen auch länger geworden.
Allerdings hatte es eine Phase gegeben, kurz bevor Sean gestorben war, in der sie fast jede Nacht von diesem Traum heimgesucht worden war. In der schlimmsten Phase sogar zwei oder drei Mal in einer Nacht – sie hatte die Augen geschlossen, und der Traum hatte auf sie gewartet wie ein leerer Zug an einem verödeten Bahnsteig. Manchmal wirkte das nur verwirrend, manchmal schien es ihr aufregende Möglichkeiten zu eröffnen, und manchmal war es so erschreckend, dass sie voller Panik aufwachte.
Sie befand sich immer in einem Haus … Es war nicht immer dasselbe Haus, aber es war ihr eigenes Haus, und sie hatte dort schon längere Zeit gelebt, ohne dass ihr diese Sache aufgefallen war. Manchmal hatte sie es auch einfach vergessen, sie hatte dort gelebt, möglicherweise schon jahrelang, ohne zu bemerken, dass es in dem Haus …
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